Die Angst vor dem Heim

Behinderte Menschen laufen Gefahr, in ein Pflegeheim übersiedeln zu müssen, weil der Staat lieber für Heime zahlt als für persönliche Hilfe.

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„Olivia Thorpe ist 19 und hat ein erstes Jobangebot in der Tasche. Martina Lerchbaumer ist 23 und freut sich auf ihr Baby. Thomas Stix ist 30, berufstätig und ein Freund der Philosophie. Anna Maria Hosenseidl ist 49, Pensionistin und hat ein ziemlich fürchterliches Jahr hinter sich.“, diese Beispiele bringen die Salzburger Nachrichten und berichtet weiter:

„Was die vier Wiener verbindet? Der Wunsch, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen; die Sorge, dafür nicht die notwendige Unterstützung zu bekommen – und deshalb letztlich doch in einem Behindertenheim zu landen.

Olivia, Martina und Anna Maria sind Spastikerinnen, Thomas leidet an Muskelschwund. Im Rollstuhl sitzen sie alle, nur wenige Handgriffe können sie ganz allein erledigen. Das ist nicht zu ändern. Sehr wohl zu ändern wäre ihre Lebensqualität. Mit „Persönlicher Assistenz“ – einem auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Helfer-Dienst – könnten sie ihr Leben so gestalten, wie sie sich das vorstellen. Dafür reicht das Pflegegeld aber nicht aus.“

Zwar sei ein Pilotprojekt zur „Persönlichen Assistenz“ ausgearbeitet, die für behinderte Menschen zuständige Wiener Vizebürgermeisterin Grete Laska (SPÖ) scheue aber davor zurück, diesen Versuch endlich zu starten – berichten die Salzburger Nachrichten. Einhelliger Tenor bei Hilfsorganisationen und Betroffenen: „Wir werden ständig abgespeist.“ Bei der Gemeinde Wien will man diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen (siehe unten).

Und weiter ist zu lesen: „Olivia, Martina, Thomas und Anna Maria haben ihr Leben deshalb halbwegs im Griff, weil sie sich ihre „Persönliche Assistenz“ privat organisiert haben: Da sind Freunde, die sich für ein Taschengeld notfalls auch rund um die Uhr abwechseln, und Eltern, die immer einspringen; da ist ein bisschen Heimhilfe hier und ein bestellter Fahrtendienst dort. Eine für alle Beteiligten unangenehme Situation: Freunde, die nicht Nein sagen wollen; auf Hilfe Angewiesene, die pausenlos dankbar sein müssen.“

„Wir wollen Arbeitgeber sein. Wir würden Arbeitsplätze schaffen“, sagt Anna Maria Hosenseidl. Sechs Stunden Assistenz bräuchte sie täglich, an manchen Tagen vielleicht zehn. Im Dezember starb ihr Lebensgefährte, seither „ist mir erst wirklich klar geworden, wie viel Hilfe ich brauche“, berichtet sie in den die Salzburger Nachrichten. Sie wolle bestimmen, wann sie was mache, sagt die 49-Jährige – und nicht dann gezwungen sein, etwas zu tun, wenn es gerade ins Heimhilfe-Schema passe.

In Martina Lerchbaumers Stimme schwingt Verzweiflung mit. Eine „Einzelfalllösung“ sei ihr in Aussicht gestellt worden, das war vor bald zwei Monaten. Unterdessen ist sie im sechsten Monat schwanger „und passiert ist nichts“. Derzeit kommt Martina mit vier Stunden Heimhilfe pro Woche aus. Ist das Baby einmal da, braucht sie rund um die Uhr Hilfe.

„Ich wusste, dass es ein Kampf werden würde, aber dass ich total ignoriert werden würde, habe ich nicht geahnt.“ Nachsatz: „Und das im europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung.“ Auch sie habe ein Recht, Mutter zu sein. „Es wird ein Mädchen“, sagt die 23-Jährige. „Ich will meine Kleine nicht zur Adoption freigeben müssen, nur weil man mir die Hilfe verweigert.“

Bitter auch dies: Olivia hätte eine 32-Stunden-Assistenz pro Woche dann bekommen, wenn sie nicht bei den Eltern wohnen würde. „Schon seltsam: Wer noch daheim lebt, kriegt nichts – geht er ins Heim, kriegt er sozusagen alles, denn das Heim kostet ja auch viel Geld.“ Nun trägt sich – so die SN – die Familie mit dem Gedanken, das Häuschen umzubauen: Die Eltern ziehen in den ersten Stock, Olivia bekommt ihre eigene Wohnung im Erdgeschoss. Denn: Sind die Wohneinheiten getrennt, könnte die Assistenz doch bewilligt werden …


3500 Euro monatlich als Obergrenze
Ein Heimplatz in Wien kostet etwa 3500 Euro pro Monat. Mit diesem Geld ließe sich schon relativ viel Hilfe organisieren, sind die Behindertenorganisationen überzeugt, berichtent die Salzburger Nachrichten. Die höchste Pflegegeldstufe – nicht ganz 1500 Euro – reiche für „Persönliche Assistenz“ jedenfalls bei weitem nicht aus.

Bei der MA 12, der für behinderte Menschen zuständigen Magistratsabteilung in Wien, kann man sich nicht vorstellen, dass mit 3500 Euro pro Monat das Auslangen gefunden wird. In schwereren Fällen, etwa wenn die Behinderung eine Rundumdie-Uhr-Betreuung erforderlich mache, müsste man mit monatlichen Kosten in der Höhe von jedenfalls 6000 Euro, mitunter sogar von 10.000 Euro, rechnen, sagt MA-12-Leiter Sepp Schmidt. Und das sei dann schon fast drei Mal so viel wie die „andere Vollversorgung, die das System anbietet“ – sprich: das Pflegeheim. Schmidt: „Das größte Problem ist die Finanzierung.“

Ungeklärt seien aber auch die Rahmen- und Zugangskriterien, sagt der MA-12-Chef. Wo soll dieser maßgeschneiderter Helfer-Dienst beginnen? Und bei wie viel Pflegebedarf enden die Möglichkeiten der „Persönlichen Assistenz“? Soll es einen Rechtsanspruch geben oder soll es sich um eine freiwillige Leistung handeln? Und im Fall von Behinderten, die ein Baby bekommen: Ist das nun ein Fall für die Jugendwohlfahrt (und zielt damit auf das Kind ab) oder für die Behindertenhilfe (und zielt damit auf die Mutter ab).

Für „Zeitvernichtung“ hält man bei den Behindertenorganisationen (im wesentlichen: BIZEPS, Domino und der Wiener Assistenz-Genossenschaft) die als endlos empfundene Diskussion um die Rahmenbedingungen. Anstatt „Beschäftigungstherapie für Arbeitskreise“ zu machen, sollte endlich mit einem Pilotversuch „Persönliche Assistenz“ gestartet werden. Der Vergleich mit anderen europäischen Städten zeige, dass der Kreis jener, die sich um diese Art der Hilfe bemüht, sehr klein sei. In Wien wären es wohl 30 bis 40 Leute, und für manche von ihnen käme die „Persönliche Assistenz“ auch billiger als ein Heimplatz.

Sehr skeptisch steht man bei der MA 12 diesen Zahlen gegenüber. Schmidt: „Wir glauben, dass es mehr sind.“ Und man glaubt auch, dass die 3500-Euro-Grenze kaum einmal unterschritten wird. Für die Gemeinde Wien seien diese Pflegeplatzkosten aber „das Niveau, auf dem sich die Sache einpendeln“ müsste.

Derzeit wird in Wien etwa 20 volljährigen und eigenberechtigten behinderten Menschen Geld in ungefähr diesem Ausmaß gewährt – so die SN -, damit sie sich ihr Leben damit organisieren können. Was mit jenen sei, die auf derartige Unterstützung dringend warten? Schmidt: „Wir machen das derzeit ohne ausreichende gesetzliche Grundlage. Wir müssen die Spielregeln erst schreiben.“

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