Drei Zentimeter

Die wöchentliche Kolumne von Thomas Rottenberg: Die Frau kam einfach nicht über die Straße. Obwohl sie sich bemühte. Früher, vor ein paar Jahren noch, hätte man das ...

… komisch gefunden. Schließlich ist das ja der Stoff, aus dem Kabarettisten und Komiker aus dem Zeitalter des Spätresopals ihre Pointen schmiedeten: Eine Frau kommt nicht über die Straße.

Echt lustig. Spaß mit Wehrlosen. Zum Zuschauen. Mit jenem Witzvorschlaghammer, der im Fernsehen für – eingeblendete und tatsächliche – Lacher gesorgt hatte. (In Wiederholungen lachen sie immer noch. In den dritten Programmen. Oder bei Raab & Co.) Es war wirklich komisch: Die Frau kam einfach nicht über die Straße.

Um genau zu sein: Eigentlich kam die Frau sehr wohl über die Straße. Bei Grün rollte sie mit ihrem Rollstuhl über die abgeschrägte Gehsteigkante auf den Zebrastreifen. Überquerte die dreispurige Straße und kam dann halt einfach nicht mehr auf den Gehsteig hinauf.

Obwohl der doch ohnehin auch hier abgeschrägt war. Sie versuchte es vorwärts. Rückwärts. Mit einer schwungvollen Seitdrehung des Rollstuhles. Aber jedes Mal sagte der Rolli „Ätsch“, knallte gegen den Bordstein und weigerte sich, die kleine, drei – vielleicht auch fünf – Zentimeter hohe Restkante vom Straßen- zum hier ganz brav abfallenden Gehsteigniveau zu überhüpfen.

Rotphase
Ein Passant lachte tatsächlich. Die Fußgängerampel schaltete auf rot. Die Autofahrer legten den Gang an. Im Gesicht der Frau mit dem Rollstuhl zog eine Wolke auf. Nicht Angst. Nicht Panik. Sondern das Wissen darüber, was als Nächstes kommen würde: Hupen. Und Flüche. Und knappes Vorbeifahren.

Manchmal auch mit extra heruntergelassener Scheibe. Damit die Frau im Rollstuhl die Kommentare auch hören könne. Zu blöd, um mit dem Rollstuhl eine Straße zu überqueren. Selber Schuld.

Wir standen schräg gegenüber. Das Gesicht der Frau im Rollstuhl sahen wir, als sie sich in einem letzten Versuch, mit einer schnellen Drehung des elektrischen Rollis – wobei sie gleichzeitig den Oberkörper nach hinten warf – das rettende Ufer nicht nur zu erreichen, sondern auch zu erklimmen.

Die Autofahrer hupten bereits. Am Gehsteig, vor dem der Rollstuhl stand, standen drei interessiert zuschauende Herren. Die Frau ergab sich in ihr Schicksal und manövrierte ihren Rollstuhl so, dass sie möglichst nah am Gehsteig zu stehen kam. Die Autos fuhren an.

Zwei Kilo
A. marschierte los. Schräg über die Kreuzung. Rund zwei Kilo Druck, also einmal die große Zehe hindrücken, habe sie auf den hinteren Holm des Rollstuhles bringen müssen, um das Gefährt so weit aufzukanten, dass es problemlos auf den Gehsteig hoppeln konnte, erzählte sie eine Fußgängerampel-Grünphase später. Fünf Sekunden hatte das Manöver gedauert. Sie hatte nicht einmal das Einkaufssackerl aus der Hand legen müssen. Die drei Herren hatten interessiert zugesehen.

Als wir die Frau im Rollstuhl wieder einholten, wartete sie gerade an der nächsten Ampel. Ihre Hilflosigkeit von eben war ihr peinlich. Da war doch diese Abschrägung gewesen. Für teures Steuergeld für sie und anderer Menschen mit Handicap gebaut. „Manchmal“, sagte die Frau, „wünsche ich mir, dass jeder Planer seine angeblich barrierefreien Einrichtungen selbst abnehmen muss. Im Rollstuhl.“

Sie habe es längst aufgegeben, sich zu beschweren. „Weil meine Probleme angeblich zu banal sind.“

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