Ehemaliger Sonderschüler verklagt Land

Weil eine Sonderschule in Köln ihn als „geistig behindert“ einstufte und einen Schulortwechsel verweigerte, hat ein ehemaliger Sonderschüler Nordrhein-Westfalen (NRW) auf Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen Amtspflichtverletzung von Sonderpädagogen des Landes verklagt.

Richterhammer und deutsche Flagge
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Das Kölner Landgericht hat am 7. März 2017 den Prozess eröffnet und wird ihn fortsetzen. In einem viel beachteten Filmbeitrag „Für dumm erklärt – Nenads zweite Chance“ hat der WDR die fatalen Folgen des offenbar pflichtwidrigen Verhaltens der Sonderpädagogen an der Sonderschule im Oktober 2016 gezeigt und zu dem großen öffentlichen Interesse am ersten Prozesstag beigetragen. 

Nenad kam mit seinen Eltern als Bürgerkriegsflüchtling und Roma-Junge von Serbien nach Deutschland. Bei seiner Einschulung war er ein verängstigtes Kind, das über keinerlei Deutschkenntnisse verfügte. Aufgrund eines IQ-Tests wurde er von Sonderpädagogen in Bayern als „geistig behindert“ eingestuft und einer Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung zugewiesen.

Nach seinem Umzug von Bayern nach Köln wurde das Gutachten ungeprüft übernommen und jährlich fortgeschrieben. Nur mit Hilfe von Außenstehenden gelang Nenad der Eintritt in ein Berufskolleg, wo er derzeit mit guten Erfolgsaussichten den Realschulabschluss anstrebt. 

Das Gericht verlangt weitere Beweismittel

In der Abweisung des Antrags auf Prozesskostenbeihilfe für Nenad hatte das Landgericht noch die Meinung vertreten, dass eine schuldhafte Amtspflichtverletzung nicht erkennbar sei, und sich dabei der Argumentation des beklagten Landes angeschlossen.

Mit der Forderung nach weiteren Beweismitteln von Seiten des Klägers und der beklagten Partei hat das Gericht jetzt zu erkennen gegeben, dass es sich mit der Frage der rechtmäßigen Zuweisung des Klägers auf eine Sonderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung beschäftigen will. 

Einschränkend machte der Richter in der Prozesseröffnung jedoch geltend, dass der Kausalitätsnachweis, dass der Schüler ohne Sonderschulzuweisung eine günstigere Lernbiografie gehabt hätte, eine „hohe Hürde“ sei. Er verwies dabei auch auf die „schwierigen familiären Verhältnisse“ des Schülers.

Dabei geriet ihm allerdings völlig aus dem Blick, dass mit der Zuweisung zur Sonderschule dem Schüler – unabhängig von seiner familiären Lebenssituation – von vornherein alle Bildungschancen für ein selbstbestimmtes Leben mit gleichberechtigter sozialer Teilhabe vorenthalten wurden, die ein nichtbehinderter Schüler im Regelschulsystem hat. Denn diese Sonderschule vergibt keinen Schulabschluss, sondern bereitet auf die Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte vor. 

Die Argumentation des beklagten Landes ist substantiell unhaltbar

Das Land hat in der Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung (AO-SF) den Förderbedarf Geistige Entwicklung präzise definiert. Gemäß § 5 AO-SF liegt ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung dann vor, „wenn das schulische Lernen im Bereich der kognitiven Funktionen und in der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit dauerhaft und hochgradig beeinträchtigt ist und wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür sprechen, dass die Schülerin oder der Schüler zur selbständigen Lebensführung voraussichtlich auch nach dem Ende der Schulzeit auf Dauer Hilfe benötigt“. 

Diese Kriterien treffen auf den Kläger allesamt nicht zu. Daher ist es beschämend, dass das beklagte Land sich dennoch weigert, eine Amtspflichtverletzung der Sonderpädagogen in ihrer über Jahre fortgeschriebenen Einstufung des Klägers als „geistig behindert“ zu erkennen, und jegliche Haftung ablehnt. 

Das beklagte Land verstößt gegen seine eigenen Bestimmungen

Das beklagte Land ist ganz offensichtlich nicht willens, in diesem Fall seine eigenen rechtlichen Bestimmungen ernst zu nehmen und anzuwenden. 

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat in ihrer Klageschrift mit Verweis auf § 5 AO-SF nachdrücklich begründet, warum der vom beklagten Land geltend gemachte erhebliche Leistungs- und Entwicklungsrückstand des Klägers infolge von häufigen Fehlzeiten in keiner Weise die Diagnose einer geistigen Behinderung und den Förderort der Sonderschule mit Schwerpunkt Geistige Entwicklung rechtfertigt. 

Sie hat deutlich gemacht, dass aus der Förderdokumentation der Sonderschule  ebenfalls nicht ersichtlich ist, dass der Kläger im Bereich Kognition für förderungsbedürftig gehalten wurde. Auch bei dem vom Kläger eingeforderten Schulortwechsel hat die Sonderschule keine Bedenken gegen einen Förderortwechsel zur Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen wegen intellektueller Einschränkungen vorgebracht. Sie hat schlüssig daraus gefolgert, dass auch den handelnden Sonderpädagogen klar war, dass die Einstufung Nenads in den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung falsch war. 

Verbleib in der Sonderschule als „Akt der Fürsorge“

Das beklagte Land begründet in seinem Schriftsatz den Verbleib des Klägers an der Sonderschule für Geistige Entwicklung damit, dass ein Förderortwechsel zur Sonderschule Lernen mit dem Kläger zwar diskutiert wurde, da er dem oberen Leistungsspektrum der Sonderschule Geistige Entwicklung zugeordnet wurde. Er habe sich aber nicht an Vereinbarungen zur notwendigen Vorbereitung des Förderortwechsels gehalten. 

Als weiteres Motiv der zuständigen Sonderpädagogen, um keinen Förderortwechsel vorzunehmen, führt das beklagte Land schriftlich an, dass die Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen als eine Gefährdung für das Kindeswohl des Klägers bewertet wurde.

Bei einer Schülerschaft „mit deutlich stärkeren und häufiger auftretenden Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit größeren Klassenverbänden bestand von Seiten der Amtsträger die Sorge, dass ein Förderortwechsel bei dem Kläger bei leichter Beeinflussbarkeit, Mobbing und möglicher Instrumentalisierung durch Mitschüler noch stärker zu Schulabsentismus und delinquentem Verhalten führte“. Das beklagte Land teilt offensichtlich diese Besorgnis und Einschätzung. 

NRW beschuldigt sich der Verletzung staatlicher Fürsorgepflicht

Die fortgeführte Exklusion eines Schülers ohne geistige Behinderung in einer Sonderschule für Geistige Entwicklung, die ihn unterforderte, sozial isolierte und stigmatisierte, als Akt der Fürsorge umzudeuten, ist ungeheuerlich. 

Um jedoch zu begründen, warum die Sonderpädagogen „nur das Beste“ für Nenad wollten, wird die Sonderschule Lernen auch vom beklagten Land als das bewertet, was sie unter den Umständen einer Konzentration von sozial ausgelesenen, meist männlichen Schülern mit extremer sozialer Benachteiligung tatsächlich ist, nämlich ein Ort der potentiellen Gefährdung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Damit beschuldigt sich das beklagte Land unfreiwillig selbst, seine staatliche Fürsorgepflicht nicht wahrzunehmen. Denn danach dürfte es die Sonderschule Lernen längst nicht mehr geben. Sie dürfte erst recht heute Eltern nicht zur Wahl angeboten werden, sondern müsste zwingend wegen potentieller Kindeswohlgefährdung auslaufen. 

Gerechtigkeit für Nenad und Abbau der Sonderschulen

In einer gemeinsamen Presseerklärung fordern die Elternvereine für Gemeinsames Lernen in NRW, dass das Unrecht, das Nenad erlitten hat, vom Landgericht Köln anerkannt wird. Nach ihrer Erfahrung ist aber Nenad keineswegs als Einzelfall zu betrachten. 

Sonderpädagogische Fehlentscheidungen sind aus ihrer Sicht in den abgeschotteten Strukturen des Sonderschulsystems begründet, dem es „an öffentlicher und sozialer Kontrolle durch Mitschüler, Eltern und Lehrer der allgemeinen Pädagogik fehlt“, so Bernd Kochanek, Vorsitzender von Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen e.V. in NRW. Als zwingende bildungspolitische Konsequenz fordert Eva Thoms, Vorsitzende von mittendrin e.V. „den Abbau von Sonderschulen und die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems für alle Kinder und Jugendlichen“.

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