Ein kritischer Blick auf den Mythos von der besonders guten Förderung in der Sonderschule

Kann dieser Mythos halten, was er verspricht? Dass Kinder mit Behinderungen in der Sonderschule optimale Lernfortschritte machen und erfolgreich für das Berufsleben vorbereitet werden?

Eine Vorstellung, die sich in der öffentlichen Diskussion über Schulintegration hartnäckig und praktisch unhinterfragt hält, ist jene, dass Sonderschulen einen besonders förderlichen Ort für die Entwicklung und das Lernen von Kindern mit Behinderungen darstellen.

Landauf, landab wird die gute Arbeit der Sonderschule gewürdigt, die besonderen Fertigkeiten der SonderschullehrerInnen werden bewundert, die gute räumliche und materielle Ausstattung der Sonderschulen ist bekannt und deren kleinstrukturierte Organisation mit dem familiären Klima ist Legende. Doch kann dieser Mythos halten, was er verspricht? Dass Kinder mit Behinderungen in der Sonderschule optimale Lernfortschritte machen und erfolgreich für das Berufsleben vorbereitet werden?

Von der österreichischen Öffentlichkeit und der Politik bislang weitgehend unbemerkt sind gerade in den vergangenen Jahren einige wichtige Untersuchungen veröffentlicht worden, die den Mythos der besonders guten Förderung in Sonderschulen kritisch hinterfragen.

Die Ergebnisse dieser Studien sind in Bezug auf die Frage der Effektivität von Sonderschule im Vergleich zu integrativer Beschulung durchaus erhellend.

Sie werden im Folgenden anhand von vier exemplarischen Studien dargestellt.

1. Untersuchung aus Kanada

Vianne Timmons und Maryam Wagner (2008) ziehen die Daten einer großangelegten Mikrozensuserhebung über Menschen mit Behinderungen in Kanada heran, um zu untersuchen, ob und wie sich der Gesundheitsstatus von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen verändert, wenn sie unter mehr oder weniger inklusiven Bedingungen beschult werden.

Anhand der Kategorien hohe, mittlere und geringe Inklusion vergleichen die Autorinnen u.a. Daten über den schulischen Fortschritt und den Gesundheitszustand von 8.000 Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen im Alter zwischen 5 und 14 Jahren.

Unter einem hohen Grad von Inklusion verstehen sie ein Schulsetting, in dem ein Kind mit Behinderung die Nachbarschaftsschule besucht und dort die, seinen Bedürfnissen entsprechende Unterstützung bzw. die dafür erforderlichen Hilfsmittel erhält; sie verstehen unter hoher Inklusion, dass ein Kind mit Behinderungen mit seinen AlterskollegInnen unterrichtet und nicht aus der Klasse herausgenommen wird und dass es an allen schulischen Aktivitäten teilnimmt, also auch an kulturellen oder sportlichen Programmen, die außerhalb der Schule stattfinden; schließlich zeichnet sich ein hoher Grad von Inklusion auch dadurch aus, dass Eltern von Kindern mit Behinderungen für die Schule als Kooperationspartner fungieren.

Timmons und Wagner kommen u.a. zu folgenden, statistisch signifikanten Ergebnissen: SchülerInnen mit Behinderungen machen unter hohen inklusiven Bedingungen deutlich bessere Lernfortschritte als unter geringen inklusiven Bedingungen, gleichzeitig zeigen deutlich mehr SchülerInnen nur geringe schulische Fortschritte, wenn das Ausmaß ihrer schulischen Inklusion gering ist (vgl. Abb. 1).

Dasselbe Muster zeigte sich in Bezug auf den allgemeinen Gesundheitszustand: Je höher der Inklusionsgrad der Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen sehr guten Gesundheitszustand haben. Gleichzeitig gibt es deutlich mehr Kinder mit schlechtem Gesundheitszustand unter Bedingungen geringer Inklusion (vgl. Abb. 2).

Dieses Ergebnis zeigt sich auch, wenn speziell die Gruppe von SchülerInnen mit schweren und sehr schweren Beeinträchtigungen genauer betrachtet wird: Auch in dieser Gruppe haben deutlich mehr Kinder und Jugendliche einen sehr guten Gesundheitszustand sind, wenn sie einen hohen Grad schulischer Inklusion erleben.

Besonders auffällig ist hier, dass deutlich mehr Kinder mit schweren bzw. sehr schweren Behinderungen in einem schlechten Gesundheitszustand sind, wenn sie unter Bedingungen geringer Inklusion unterrichtet werden (vgl. Abb. 3).

Die Studie von Timmons und Wagner ist die erste, die auf einer breiten empirischen Basis einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß inklusiver Beschulung und dem Gesundheitszustand von SchülerInnen mit Behinderungen untersucht. Die Effekte sind augenscheinlich, und es wäre dringend notwendig, detailliertere und spezifische Folgeuntersuchungen durchzuführen.

2. Untersuchung aus Deutschland

Klaus Klemm (2009) führte eine Untersuchung zur Frage der Effizienz von Förderschulen in Deutschland durch. Dafür analysiert er Bildungsstatistiken aus der Bundesrepublik Deutschland und verknüpft diese mit den jährlichen Ausgaben für Förderschulen. Klemms Schluss ist eindeutig:

  • Je länger Kinder in einer Förderschule sind, desto ungünstiger entwickeln sich ihre schulischen Leistungen. Oder, anders gesagt:
  • „Die Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf machen bessere Lern- und Entwicklungsfortschritte, wenn sie an einer allgemeinen Schulen lernen können.“ (ebd., 7)

3. Untersuchung aus der Schweiz

In einer Langzeitstudie erfassen Michael Eckhart, Urs Haeberlin, Caroline Sahli Lozano und Philippe Blanc (2011) die Werdegänge von Jugendlichen Lernbehinderungen aus Integrationsklassen und vergleichbare Jugendliche aus Sonderschulen. Das Hauptinteresse der AutorInnen liegt bei den Übergängen zwischen Schule und Beruf bzw. der Frage, wie gut sich die jungen Erwachsenen am Arbeitsmarkt behaupten können.

Die Ergebnisse dieser quantitativen Untersuchung sind eindeutig:

  • AbgängerInnen aus Integrationsklassen haben deutlich bessere Chancen in der Berufswelt;
  • Jugendliche aus Integrationsklassen schaffen es immer wieder, an mittleren Schulen Abschlüsse zu erreichen, wohingegen dies bei Jugendlichen aus Sonderschulklassen nie der Fall ist;
  • Schließlich müssen ehemalige SonderschülerInnen im Vergleich zu ehemaligen IntegrationsschülerInnen als sozial isoliert bezeichnet werden, denn sie haben im Gegensatz zu ihren KollegInnen aus der Integration keine tragfähigen sozialen Netze.

Die AutorInnen kommen daher zu folgendem Schluss: „Die Integration der bisher als `lernbehindert´ diagnostizierten Kinder und Jugendlichen in die Regelklassen und damit die Abschaffung der Sonderklassen für Lernbehinderte ist unter dem Aspekt der Chancengerechtigkeit unumgänglich.“ (ebd., 112)

4. Untersuchung aus der Schweiz

Rachel Sermier-Dessemontet, Valérie Benoit und Gérard Bless (2011) widmen ihre quantitative empirischen Studie der Frage, wie sich die schulische Integration von Kindern mit sogenannter geistiger Behinderung auf deren schulischen Fortschritt auswirkt.

Die AutorInnen erfassen insgesamt 68 Kinder in zwei Gruppen, je 34 Kinder in der Sonderschulen bzw. in Integrationsklassen. Um die Vergleichbarkeit der Kinder in diesen beiden Gruppen sicherzustellen, legen die AutorInnen großen Wert auf eine strenge Parallelisierung. Zu mehreren Zeitpunkten werden alle teilnehmenden Kinder einer umfassenden Testbatterie unterzogen.

Auch in dieser Studie sind die Ergebnisse eindeutig:

  • Die Lernfortschritte der integrierten Kinder in den Schulleistungen sind mindestens gleich groß wie jene vergleichbarer Kinder in Sonderschulen;
  • Sprachlich erzielen die IntegrationsschülerInnen signifikant bessere Leistungen als die SonderschülerInnen.

Die WissenschafterInnen erklären die positiven Ergebnisse der IntegrationsschülerInnen durch die stimulierende Lernumgebung in Integrationsklassen. Diese scheint die besondere Förderung der Sonderschulen wettzumachen.

Der Mythos entpuppt sich als Märchen

Diese vier exemplarisch ausgewählten Studien fügen sich in eine Reihe ähnlicher Untersuchungen. Alle zeigen und belegen sie, dass die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen in Sonderschulen bei Weitem nicht so gut und vor allem erfolgreich ist, wie dies ihr Mythos suggeriert. Der Mythos entpuppt sich als Märchen.

Mit diesem nun zur Verfügung stehenden Wissen über den behindernden Effekt, den schulische Aussonderung auf das Leben von Menschen mit Behinderungen hat, sollte der konsequente Abbau aller Sonderschulen zügig in Angriff genommen werden.

Literatur

  • Eckhart, Michael; Haeberlin, Urs; Sahli Lozano, Caroline; Philippe Blanc (2011): Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Eine empirische Studie zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Schulzeit für die soziale u. berufliche Situation im jungen Erwachsenenalter. Bern: Haupt Verlag.
  • Klaus Klemm (2009). Sonderweg Förderschulen: Hoher Einsatz, wenig Perspektiven. Eine Studie zu den Ausgaben und zur Wirksamkeit von Förderschulen in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. Im Internet
  • Sermier-Dessemontet, Rachel; Benoit, Valérie; Bless, Gérard (2011). Schulische Integration von Kindern mit einer geistigen Behinderung – Untersuchung der Entwicklung der Schulleistungen und der adaptiven Fähigkeiten, der Wirkung auf die Lernentwicklung der Mitschüler sowie der Lehrereinstellungen zur Integration. In: Empirische Sonderpädagogik, 2011, Nr. 4, S. 291-307. Im Internet
  • Timmons, Vianne; Wagner, Maryam (2008). The Connection Between Inclusion and Health. In: Professional Development Perspectives 2008, Vol. 7/3, 20-24. (Eine andere Version desselben Textes gibt es bei Integration Tirol zum Downloaden)
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