Einen Bärendienst

Mein Kommentar mit inhaltlicher Unterstützung von Franz-Joseph Huainigg, Angelika Pichler und Jürgen Vanek.

Viel Zeit ist vergangen
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Liebe Andrea! Ich kannte dich aus Funk und Fernsehen. Einige deiner Weggefährt:innen haben von dir erzählt. Vielleicht sind wir uns ein oder zweimal persönlich begegnet. Wahrscheinlich hast du mich nicht wahrgenommen.

Trotzdem „duze“ ich dich. Ich bin drei Jahre älter als du und wahrscheinlich werde ich noch älter. Ich bin genauso wie du in der Selbstbestimmt Leben Bewegung aufgewachsen. Genauso wie dich, hat diese Bewegung mich politisch geprägt. Wir kommen aus demselben Stall.

In dieser Bewegung habe ich aufrecht gehen gelernt. Ich habe gelernt, dass ich ein uneingeschränktes Recht auf ein selbstbestimmtes Leben habe. Ich habe gelernt, dass niemand das Recht hat, mein Leben in irgendeiner Form in Frage zu stellen. Ich habe gelernt, dass ich für meine Rechte und meinen Lebensentwurf immer wieder eintreten muss.

In dieser Bewegung habe ich gelernt, wie wichtig Solidarität ist. Ich habe Gemeinschaft gespürt und gelernt, politisch zu denken.

Damals in den 80ger Jahren hatten wir eine klare politische Ansage. Nicht nur einmal haben wir den provakanten Satz in den politischen Raum geworfen:

Nur ein toter Krüppel ist ein guter Krüppel!

Damit wollten wir klar machen, dass wir behinderte Menschen von der Gesellschaft nur geduldet werden und von dieser Gesellschaft immer wieder unser Lebensrecht dreist in Frage gestellt wird.

Die Wahnvorstellung der nichtbehinderten „ach so perfekten Gesellschaft“, dass wir unter unserer Behinderung leiden würden und keine Lebensqualität haben, wurde und wird uns bis heute brutal über den Kopf gestülpt, sodass wir daran ersticken sollen.

Damals, ich glaube, es war 1980, haben wir in Karlsruhe, wir nannten uns noch „Krüppelbewegung“, eine große Veranstaltung gesprengt. Sie fand einfach nicht statt.

Hans Henning Atrott aus Deutschland sollte auftreten und eine Stimme bekommen. Atrott, Handelsreisender in Sachen aktiver Sterbehilfe, sollte eine Bühne für sein Geschäftsmodell „Schöner Tod“ erhalten.

Wir spielten „Spiel mir das Lied vom Tod“. Seine Show war vorbei.

Damals, ich war sehr jung, haben sich zwei Sätze in mein Bewusstsein eingeprägt. Sie haben für mich bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren.

Satz Eins: „Solange unser Recht auf Selbstbestimmtes Leben nach unseren Vorstellungen nicht für ALLE umgesetzt worden ist, diskutieren wir nicht über das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben durch aktive Sterbehilfe! Schon gar nicht in der Öffentlichkeit!“

Uns war bewusst, dass die Forderung nach aktiver Sterbehilfe überwiegend von Menschen geführt wird, die nicht betroffen und in der Regel nicht vom Humanismus geleitet sind. Der Wahn, „alles Leid der Welt“ zu beseitigen hat sein Fundament ausschließlich in der Ökonomie.

Satz Zwei: „Ich möchte nicht durch eine Hand sterben, sondern an einer Hand!“

Ich möchte die Hand spüren, die mich in den Tod begleitet.

Liebe Andrea, ich habe großen Respekt vor deinem Leben und vor deiner Lebensleistung. Ebenso habe ich Respekt vor deiner sehr persönlichen Entscheidung, durch einen Selbstmord aus dem Leben zu gehen.

Auch ich hatte in meinem Leben Selbstmordgedanken und hätte mich dagegen verwehrt, wenn mir jemand das Recht abgesprochen hätte, zu entscheiden, wann ich aus dem Leben gehe.

Für mich ist das eine sehr persönliche Entscheidung, die im öffentlichen Raum keinen Platz haben sollte!

Was ich nicht verstehe ist, dass du deinen Abgang öffentlich zelebrierst. Du findest Worte, die für unsere Gegner:innen, die uns bis heute das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben absprechen, Wasser für ihre Mühlen sind.

Mit deiner Selbstinszenierung zerstörst du mit einem Schlag alles, wofür die Selbst Bestimmt Leben Bewegung gestanden ist und hast der Bewegung einen Bärendienst erwiesen.

Einen Bärendienst erweisen heißt eine Handlung für jemanden/etwas, die in guter Absicht erfolgt und (trotzdem) schlechte Folgen für die Person/die Sache hat.

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5 Kommentare

  • Schade, das die Fähigkeit des Lesens und den Sinn eines Textes zu erfassen, immer mehr verloren geht. Am meistens von diesem Verlust betroffen sind Intellektuelle

  • Korrektur: mündiger Mensch
    Nicht: kundiger

  • Ein eher anmaßender Kommentar von Koll. Oechsner! Da das Sterben zum Leben gehört, ist auch der selbstbestimmte Tod ein Akt des selbstbestimmten Lebens! Wer sind wir, darüber zu richten, wenn sich jemand dazu entschließt? Ohnehin ist der Weg zum assistierten Sterben zu einem Bürokratiemonster geworden, nicht zuletzt durch die Bevormundung sterbewilliger Menschen durch diverse Ethikgruppen, die es im Grund genommen nichts angeht, wenn ein kundiger Mensch aus dem Leben scheiden will. Daher: möge es Andrea nun gut gehen, von Schmerz und Leid befreit! Und all jenen, die sich wie sie zu einem selbstbestimmten Tod als Teil ihres selbstbestimmten Lebens entschieden haben.

  • Lieber Andreas Oechsner!
    Danke vielmals für die klaren und offenen Worte ohne dabei den Respekt vor dem Leben von Andrea M. zu verlieren. Ich kann Dir bei diesem heiklen Thema des assistierten Suizids bzw aktiver Sterbehilfe nur Recht geben. Seit Jahren bis dato habe ich versucht, vor dieser leider absehbaren gesellschaftspolit. Entwicklung zu warnen (zB Parlamentarische Enquete Kommission Würde am Ende des Lebens 2014). Der Trend hätte jedoch auf Dauer nicht verhindert werden können. Was jedoch zumindest angemerkt werden muss, dass die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung hier einige schwere strategische Fehler gemacht hat. Ich glaube, bei vielen (Szene-Älteren) sitzt der Schock tief. Bei jungen behinderten Menschen mache ich leider die Beobachtung, dass sie (wie ihre nicht behinderten Altersgenoss:innen) der Mähr vom scheinbar schönen, selbstbestimmten Tod anheimfallen. – Jetzt können wir nur noch versuchen, die slippery slope etwas zu verlangsamen. Was mich betrifft, arbeite ich diesbezüglich – ehrenamtlich – unter anderem auf Twitter. Ich würde mich über neue Follower:innen und Inputs freuen: @uebersleben

  • Dass es sich gerade bei dieser Frau noch dazu um ärztlich assistierten Suizid handelt, wird geflissentlich verschwiegen. Erfreulich, dass Frau Mielke zu im Jahr 2022 einen vergleichsweise friedlichen Tod erhalten hat. Was bitte hat das damit zu tun, dass Behinderte diskriminiert werden?
    Die Suizidassistenz ist kein Behindertenthema, weshalb ich auch das Sterbeverfügungsgesetz kritisiere.

    Die Beschränkung der Anspruchsberechtigung gehört aufgehoben, ebenso das Werbeverbot und das Verbot der gewerblichen Suizidassistenz. Die Suizidassistenz sollte hauptberuflich, professionell und gewinnbringend erbracht werden dürfen und grundsätzlich jedem Erwachsenen offenstehen, das Verbot die Ausnahme sein, wie es der zivilrechtliche Normalfall wäre. Der Gesetzgeber hat sich leider zu sehr von Katholibanen, gefühlsduselnden Sozialromantikern ua ins Handwerk pfuschen lassen. Viel zu sehr wird die Hilfeleistung, das Mitgefühl und die Notlage betont statt wirkliche Selbstbestimmung und die Freiheit zum Leben oder zum Tode.
    Aber: Es ist besser als nichts.