Es ist normal, verschieden zu sein

Der Weg der Caritas zu einem neuen Leitbild

Teil der Kerngruppe auf dem Leitbildtag 2012
Steindl, Stefanie

Am Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen setzte die Caritas im Vorjahr den festlichen Auftakt für die intensive Auseinandersetzung mit ihrem Leitbild.

Über 200 MitarbeiterInnen und KlientInnen aus unterschiedlichen Einrichtungen der Caritas der Erzdiözese Wien machten bei einer Ausfahrt im Weinviertel Gleichberechtigung und Teilhabe zum Thema.

Die Fahrt steht stellvertretend für einen umfassenden Leitbildprozess, zu dessen Ausarbeitung alle eingeladen wurden. Es ging vor allem um die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, und darum, wie die Gedanken in den Einrichtungen der Caritas ge- und erlebt werden können.

„Wir wollen kein Stück Papier verfassen, das in einer Schublade verstaubt, sondern gemeinsam Grundlagen des Miteinanders erarbeiten und diese Gedanken auch mit Leben erfüllen,“ beschreibt Sonja Weiklstorfer, Leiterin des Bereichs Menschen mit Behinderung den Prozess. „Die Verantwortung dafür, dass das Leitbild gelebt wird, tragen wir alle gemeinsam. Es war uns wichtig, dass wir von den Menschen, die in unseren Einrichtungen leben und arbeiten erfahren, was sie für ihr Leben wünschen. Jeder Mensch hat Kompetenzen, Vorlieben und Bedürfnisse. Dabei wollen wir uns an den Potentialen der Menschen und nicht an ihren Defiziten orientieren. Inklusive Arbeit ist nur dann tragfähig, wenn sie auf individuellen Fähigkeiten und Interessen aufbaut. Wir müssen dort Unterstützungsleistung anbieten, wo sie erforderlich ist, damit einerseits persönliche Ziele erreicht werden können und andererseits gleichberechtigte, uneingeschränkte Teilhabe am sozialen Leben ermöglicht wird.“

Die Etappen einer gemeinsamen Reise

Die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention stellt nicht nur die Politik sondern auch Organisationen der „traditionellen Behindertenarbeit“ vor besondere Herausforderungen. Die Caritas der Erzdiözese Wien bietet seit den 1960er Jahren Wohn- und Werkstattplätze für Menschen mit intellektueller Behinderung und mehrfacher Behinderung ab dem fünften Lebensjahr an. Die Strukturen sind über die Jahre gewachsen und wurden an die rechtlichen Rahmenbedingungen der Bundesländer Wien und Niederösterreich angepasst.

Vor drei Jahren begann die Caritas, sich intensiv mit den Forderungen nach Inklusion, Mitbestimmung und Barriereabbau gemäß der Konvention zu befassen und die Forderungen in die tägliche Arbeit einfließen zu lassen. Dabei sollen Menschen mit intellektueller Behinderung und mehrfacher Behinderung in alle Aktivitäten in einem gegenseitigen Lernprozess einbezogen werden. Dafür erschien eine Änderung der Formate der Veranstaltungen wesentlich. So wurde damit begonnen, die Methode der Unterstützten Kommunikation anzuwenden und Schriftstücke in Leichter Sprache zu verfassen.

Eine wichtige Etappe für die Umsetzung der Konvention in der täglichen Arbeit waren Veränderungen im Wohnangebot. Es gibt nun neue, kleinere Wohngruppen in Gemeindebauten und in zentraler Lage von Ortschaften. Große Einrichtungen wurden verkleinert und Wohngruppen für Kinder und Jugendliche mitten in Wien eröffnet. Auch die Angebote der Tagesstätten erfuhren eine grundlegende Umgestaltung. Es gibt Arbeitsgruppen außerhalb der Tagesstätten, die etwa in Pensionistenheimen tätig sind.

Die Tagesstätten betreiben kleine Geschäfte oder Lokale, in denen KlientInnen arbeiten. Ein weiterer wesentlicher Schritt war es, entsprechende familienergänzende Angebote zu schaffen, die gewährleisten, dass Kinder und Jugendliche direkt in ihren Familien unterstützt werden können und die ermöglichen, dass sie weiterhin bei ihren Eltern wohnen.

2010 wurden in allen Einrichtungen InteressenvertreterInnen gewählt. Sie sollen in Zukunft bei allen Entscheidungen mitreden und mitentscheiden. In den Wohngruppen und Tagesstätten bildeten sich Gruppenparlamente der KlientInnen. Die InteressenvertreterInnen besuchen Fortbildungen und tauschen sich in regelmäßigen gemeinsamen Treffen über ihre Arbeit aus.

„Im ersten Leitbild wurden wichtige Begriffe aufgenommen: Normalisierung, Integration und Selbstbestimmung. Es geht aber nicht nur um Normalisierung, sondern um das gleiche Recht für alle, nicht mehr nur um Integration, sondern um Inklusion. Inklusion heißt, dass auf die Bedürfnisse aller Rücksicht genommen wird, egal wie unterschiedlich sie sind. Selbstbestimmung ist weiterhin eine wichtige Forderung, aber nun geht es auch um Mitbestimmung“, so Weiklstorfer.

Das neue Leitbild entsteht

Am 3. Dezember 2010 initiierte die Caritas die Tagung „Leben wie andere auch“. Menschen mit und ohne Behinderung sprachen über die Inhalte der UN-Konvention, die Vorträge und einige Workshops wurden von Menschen mit Behinderung gehalten. Die InteressenvertreterInnen waren in die Vorbereitungen der Tagung eingebunden.

Die Erfahrungen der Tagung flossen in die Ausarbeitung des neuen Leitbilds ein. Mithilfe einer Unterstützerin engagierten sich die sechs InteressenvertreterInnen in einer Kerngruppe und entwickelten Ideen für das neue Leitbild. Als Basis dienten die Themen der UN-Konvention. Die Kerngruppe half dabei, die Themen der Konvention in Leichte Sprache zu übersetzen und ein Symbol für den Prozess zu entwickeln. Ein farbiger Leuchtturm soll symbolisch den Weg weisen.

Den einzelnen Bereichen des Leitbilds wurden Farben zugeordnet: „Behindert ist, wer behindert wird“ (Farbe blau), „Ich bin dabei“. (Farbe grün), „Das steht mir zu“ (Farbe violett), „Ich kann es“ (Farbe rot), „Ganz persönlich“ (Farbe orange), „Selbstbestimmt leben“ (Farbe gelb). Zwischen Mai und Juni 2011 fanden Workshops für MitarbeiterInnen und InteressenvertreterInnen statt. Aus der Fülle an Workshop-Ergebnissen wurde ein Textentwurf für das neue Leitbild erstellt. Es gibt nur mehr eine Fassung des neuen Leitbildes in Leichter Sprache.  Begleitend wurden Materialien entwickelt, die Themen aus dem Leitbild auch schwer behinderten Menschen verständlich machen.

Die Aufgabe der nächsten Jahre ist es, die Forderungen und Visionen aus dem Leitbild zu verwirklichen. Alle Beteiligten haben gelernt und lernen noch immer: etwa, dass es schwierig aber lohnend ist, immer von den Bedürfnissen aller auszugehen; dass Menschen mit Behinderung am besten wissen, was sie brauchen; oder dass Menschen mit intellektueller Behinderung leider immer noch in vielen Belangen unterschätzt werden. Und vielen Beteiligten wurde in diesem Prozess bewusst, dass sie Rechte haben und dass es wichtig ist, auf seinen Rechten zu bestehen.

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