Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Ungarn für Tod in Pflegeheim verurteilt

Eine Frau mit Lernschwierigkeiten verstarb in einem ungarischen Pflegeheim. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte daraufhin den ungarischen Staat aufgrund der Verstöße gegen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Gerichtsurteil - Hammer
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Immer wieder berichtete BIZEPS über die katastrophale Lage von Menschen mit Behinderungen in osteuropäischen Ländern. Namen wie Rumänien, aber auch Ungarn tauchen in dem Zusammenhang immer wieder auf, so auch die ungarische Behinderteneinrichtung Topház.

Laut Berichten wurden dort Folter und Misshandlungen von Bewohner:innen festgestellt. Bisher wurde nicht viel unternommen, doch am 10. Oktober 2024 fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil gegen den ungarischen Staat, das ein starkes Zeichen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Heimen setzt.

Was ist passiert?

Anlass für das Urteil war das tragische Schicksal und der Tod einer Frau mit Lernschwierigkeiten, die im Alter von zehn Jahren in die Einrichtung Topház in Göd, Ungarn, eingewiesen wurde. 2017 stellte die Behindertenorganisation Validity Foundation die entsetzlichen Bedingungen fest, unter denen die Frau leben musste.

Die Frau, die im Bericht von ENIL als T.J. bezeichnet wird, war an ihr Bett gefesselt und mit zahlreichen Verletzungen übersät gewesen. Sie war abgemagert und kaum noch ansprechbar. In einem Bericht wies die Validity Foundation auf die rechtswidrige Anwendung von Fesseln hin, sowie auf das Fehlen einer angemessenen medizinischen und therapeutischen Versorgung.

Im Laufe der Jahre erlitt die Frau mehrere körperliche Verletzungen und einen starken Gewichtsverlust. 2018 verstarb die Frau an einer Lungenentzündung. Infolgedessen brachte die Validity Foundation den Vorfall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit der Begründung, dass der Tod der Frau die Folge einer langjährigen Vernachlässigung und unzureichender Pflege im Pflegeheim war.

Mehrere Verstöße gegen die UN-Konvention

Am 10. Oktober 2024 fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegen das Land Ungarn aufgrund der Vorfälle in der Behinderteneinrichtung Topház ein Urteil.

Konkret wurden folgende Verstöße gegen die UN-Konvention festgestellt: Verletzung von Artikel 2: Das Recht auf Leben. Das Gericht stellte fest, dass der ungarische Staat T.J.s Recht auf Leben in zweierlei Hinsicht nicht geschützt hat. Einerseits dahingehend, dass angemessene Pflege unterlassen worden sei.

Der Staat Ungarn habe nicht für die notwendige medizinische und therapeutische Versorgung gesorgt, um eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu verhindern. Zudem sei T.J. trotz ihres schwächlichen Zustandes oft ans Bett gefesselt gewesen, ohne angemessene medizinische oder ernährungsbezogene Unterstützung zu bekommen.

Wegen der Unterbesetzung des Personals war die Versorgung und die Aufsicht in der Einrichtung unzureichend, was zu einer erhöhten Gefährdung der Bewohner:innen führte.

Die ungarischen Behörden waren auf die schlechten Bedingungen in der Einrichtung hingewiesen worden. In mehreren Berichten des Ministeriums für Humanressourcen war auf unmenschliche und erniedrigende Praktiken hingewiesen worden. Infolgedessen habe es der Staat versäumt, den Tod der Bewohnerin zu verhindern.

Das Gericht betonte, dass T.J. als Bewohnerin einer staatlichen Einrichtung unter der ausschließlichen Kontrolle des Staates stand, der die Pflicht hatte, für ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen zu sorgen. Die Verletzlichkeit von T.J. als Person mit Lernschwierigkeiten machte sie in allen Aspekten ihrer Betreuung vom Staat abhängig.

Trotz eindeutiger Anzeichen von Vernachlässigung, einschließlich schwerer Unterernährung und wiederholter Verletzungen, unternahmen die Behörden keine nennenswerten Schritte, um ihr Leben zu schützen. Die langfristige Vernachlässigung von T.J. in Verbindung mit unzureichender medizinischer Versorgung führte zu einer Lungenentzündung und schließlich zu ihrem Tod.

Das Gericht stellte fest, dass der Staat es versäumt hatte, das vorhersehbare Risiko für ihr Leben zu verhindern. Die Untersuchung ihres Todes habe auch nicht die unzureichende Betreuung im Heim miteinbezogen, die sich nach Ansicht der Validity Foundation unmittelbar auf den Gesundheitszustand der Frau ausgewirkt hat.

Auch habe Ungarn gegen Artikel 34, das Recht auf Individualbeschwerde, verstoßen. Das besagt, dass Einzelpersonen das Recht haben, sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden. Ungarn bestritt das Recht der Validity Foundation, im Namen von T.J. zu handeln, und argumentierte, dass ihr gesetzlicher Vormund oder ihr nächster Angehöriger für ein solches Vorgehen zuständig sein sollte.

Doch T.J.s gesetzlicher Vormund, der vom Staat bestellt worden war, hat keine Schritte zum Schutz T.J.s unternommen. Er habe die Einrichtung nur selten besucht und kaum Kontakt zu T.J. gehabt. Auch die Familie habe kein Interesse an ihrer Situation gezeigt.

In Anbetracht dieser Tatsachen stellte das Gericht fest, dass die Validity Foundation in T.J.s bestem Interesse handelte und vor ihrem Tod ernsthafte Versuche unternommen hatte, sich für ihre Rechte einzusetzen. Daher entschied das Gericht, dass Validity gemäß Artikel 34 befugt war, die Klage im Namen von T.J. einzureichen, wobei es die Verletzlichkeit der Verstorbenen und die Schwere der Vorwürfe anerkannte.

Ein wichtiger Meilenstein

Die vom Gerichtshof gefällten Urteile sind für die betroffenen Staaten bindend und haben Regierungen dazu veranlasst, ihre Gesetze und ihre Verwaltungspraxis in vielen Bereichen zu ändern.

Der Fall von T.J. ist weit mehr als nur Gerechtigkeit für eine Einzelperson – er deckte große Mängel im Sozialfürsorgesystem Ungarns auf, und zieht nach langem den Staat dafür zu Verantwortung.

Auch erinnert der Fall wieder einmal an die Gefahren von Institutionen und an die Relevanz von inklusiven gemeindenahen Unterstützungsformen.

„Das Urteil gegen Ungarn ist ein bedeutender Sieg für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und schafft einen starken Präzedenzfall für zukünftige Fälle, in denen institutionelle Vernachlässigung und unmenschliche Behandlung angefochten werden“, heißt es im Bericht von ENIL.

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Ein Kommentar

  • Ich habe Temesta Expidet 2,5 mg in der Schultasche meiner Tochter in Graz gefunden. Weil es nicht zu ihrer Medikation gehört und sie zu klein dafür ist, habe ich nach der Medikationsliste gefragt, bis heute habe ich keine Medikationsliste bekommen. 3 Jahre lang wurde dieses Medikament meiner Tochter in unbekannter Menge verabreicht. Ich habe es bei der Polizei angezeigt. Die Staatsanwaltschaft hat die Untersuchung ohne eine Prüfung eingestellt… Hier passieren auch unheimliche Sachen, nicht nur in Ungarn. Man muss nicht einmal in einem Heim leben. Behinderte Menschen haben immer noch nicht die gleichen Rechte.