Experten in eigener Sache

Seit 2008 gibt es die Pflegegeldergänzungsleistung, deren Ziele: Mehr Unabhängigkeit und ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderungen. Im Interview: Mag.a (FH) Martina Plohovits vom Fonds Soziales Wien (FSW).

Martina Plohovits
FSW

Was ist die Pflegegeldergänzungsleistung, PGE?

Die PGE ist die Abkürzung für Pflegegeldergänzungsleistung für Persönliche Assistenz. An sich ist die PGE eine finanzielle Direktleistung. Personen, die die PGE erhalten, bekommen vom FSW Geld überwiesen, damit sie sich die Dienstleistung Persönliche Assistenz selbstbestimmt organisieren können.

Kann jeder Assistenz leisten oder braucht man dafür eine Ausbildung?

Persönliche AssistentInnen haben in der Regel keine Ausbildung. Die Menschen, die Persönliche Assistenz in Anspruch nehmen – also die KundInnen – suchen sich ihre AssistentInnen selbst aus. Wenn jemand die PGE bekommt und Sie sich bei dieser Person bewerben und für geeignet gehalten werden – das ist wie bei jedem Job – dann könnten Sie das auch machen. Man wird angelernt und braucht eigentlich keine Ausbildung. Das ist die Philosophie dahinter: Persönliche Assistenz ist Laienhilfe und viele KundInnen legen Wert darauf, dass das keine Menschen sind, die eine Vorausbildung in einem Pflegeberuf oder einen pädagogischen Hintergrund haben, weil sie sagen: Ich bin ExpertIn in eigener Sache und sage den AssistentInnen, wie ich gewisse Handgriffe haben möchte.

Im Jahr 2007 hat die Behindertensprecherin der Grünen, Claudia Smolik, gemeint, zu wenige Menschen würden die PGE bekommen bzw. diese würde sich nur auf Menschen mit Mobilitätsbehinderung beziehen. Was meinen Sie dazu?

2007 verwundert mich ein bisschen, denn von 2006 bis 2008 gab es zwar ein Pilotprojekt, aber da gab es die PGE als solche noch gar nicht. Man hat das in einem Modellversuch mit 21 TeilnehmerInnen ausprobiert, wie das funktioniert. Ab 2008 wurde die Leistung als Regelleistung des FSW eingeführt. Jetzt haben wir 220 Personen, die diese Leistung in Anspruch nehmen. Aber es stimmt: Derzeit ist die Leistung für eine bestimmte Zielgruppe definiert und das sind Personen mit Körperbehinderungen der Pflegegeldstufe 3 bis 7.

Ist da eine Änderung in die Richtung möglich oder geplant, dass die PGE auch Menschen mit anderen Behinderungen beziehen können?

Die PGE ist für Menschen mit Körperbehinderung konzipiert und in dem Sinne wie das Regelwerk zu verstehen ist mit sehr vielen Rechten und Pflichten verbunden. Dass es seit vielen Jahren von unterschiedlichen Seiten wie z.B. Betroffenenverbänden und SelbstvertreterInnen immer wieder den Wunsch auf Ausweitung gab, ist uns nicht fremd. Das wissen wir. Dazu gab es auch schon viele Arbeitsgruppen im Bundesministerium, in welchen alle Bundesländer vertreten waren und auch Personen mit Beeinträchtigung eingebunden waren. Ziel war es, in Österreich eine einheitliche Regelung zu finden auch in Bezug auf die Diskussion zur Zielgruppe.

Im Dachverband sitzen ja auch VertreterInnen von BALANCE. Im Auftrag von Stadträtin Wehsely in ihrer Funktion als Präsidentin des Dachverbandes Wiener Sozialeinrichtungen, gibt es dazu die Arbeitsgruppen „UN Gleichheit für alle“, die derzeit noch arbeiten. Dabei geht es um die Zukunft der Behindertenhilfe in den nächsten Jahren. Diese Arbeitsgruppen werden dann Empfehlungen abgeben und einen Abschlussbericht erstellen. Danach wird man sehen, was das letztlich für die Weiterentwicklung der Behindertenhilfe in Wien bedeutet.

Wann könnte dieser Bericht kommen?

Manche Gruppen sind schon fertig, ich selbst sitze in einer Arbeitsgruppe, die noch bis in den Herbst Termine hat. Vielleicht Ende des Jahres, darauf möchte ich mich jetzt aber nicht festlegen, weil ich es nicht steuern kann. Ich möchte den Ergebnissen auch nicht vorgreifen, weil das ein sehr intensiver Prozess ist.

PGE auch ohne Arbeit: Die PGE ist an die Integration in den Arbeitsmarkt gebunden, die ja für Menschen mit Behinderungen zum Teil schwierig ist. Gibt es Überlegungen, diese Koppelung in Zukunft abzuschwächen oder nicht zu machen?

Es besteht keine Koppelung in dem Sinn, dass jemand die Leistung verliert, wenn er oder sie keinen Job findet oder keine Bestrebungen anstellt, einen Job zu finden. Es ist damals bei der Einführung so kommuniziert worden, dass das eine zusätzliche Unterstützung sein kann, damit sich Perspektiven am Arbeitsmarkt entwickeln können.

In der Evaluierung im Jahr 2010 war das auch ein Thema, da haben wir die Hälfte aller KundInnen telefonisch dazu befragt. Viele Menschen haben auf diese Fragen geantwortet, dass sich aufgrund dessen, dass sie selbstbestimmt leben, Perspektiven in Richtung Ausbildung und Beschäftigung auftun – wenn ich mir die Zeit selbst so einteilen kann, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt bei der Arbeit sein kann und nicht auf die Dienste der Heimhilfen, die z. B. immer erst um 9:00 kommen, angewiesen bin.

Wie gesagt: Es verliert niemand die Leistung, weil er keinen Job findet. Wir wissen, dass es nicht so leicht ist, einen Job zu finden. Fast ein Viertel der Menschen, die die Leistung beziehen, sind außerdem in sehr hohen Pflegegeldstufen und für diese ist es noch schwieriger, Arbeit zu finden.

Glauben Sie, dass in Zukunft auch Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Sehbehinderte die PGE bekommen werden?

Da muss man erst die Ergebnisse der Arbeitsgruppen und den Endbericht abwarten und dann erst wird man abschätzen können, welche Schlussfolgerungen und Maßnahmen daraus abgeleitet werden.

Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, die keine PGE hat, weil sie Inklusion verwirklicht hat?

Wir wissen, wie es ausgesehen hat, bevor es die PGE gegeben hat: Die Angehörigen, FreundInnen und Verwandte haben sehr viel von diesen Unterstützungsleistungen abgedeckt. Oft haben die PartnerInnen diese Tätigkeiten erbracht und konnten dadurch selbst keiner Arbeit nachgehen. Mütter oder Väter übernahmen die Assistenz, sodass die Kinder dadurch oft von Zuhause nicht ausziehen konnten. Das hat Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen. Ein großes Ziel dieser Leistung ist es ja, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung herzustellen. Das war ebenfalls Thema in unserer Evaluierung. Wir haben die KundInnen nach dem Nutzen gefragt. Der größte Teil hat als großen Nutzen angegeben: Die Selbstständigkeit und die Unabhängigkeit von den Angehörigen.

Natürlich ist der Gedanke schön, zu sagen: Inklusion macht es nicht notwendig, gewisse Leistungen zu haben, das wäre ja auch eine feine Sache. Aber wer soll diese Leistungen dann erbringen? Wieder die Angehörigen? Deshalb tue ich mir etwas schwer mit dieser Frage: Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Fortschritt wäre.

Wird es nach dem Evaluierungsbericht aus dem Jahr 2010 laufend Evaluierungen geben und inwieweit sind die Ergebnisse dieses Berichtes auch in die Gestaltung der PGE eingeflossen?

Die PGE wird nicht jährlich evaluiert. 2010 haben wir damit ein externes Institut beauftragt, weil wir wissen wollten, ob das, was wir konzipiert haben, auch wirklich so ankommt. Das scheint so gewesen zu sein, weil der Bericht entsprechende Aussagen trifft. Natürlich haben wir Empfehlungen aus dem Bericht ernst genommen. Wir versuchen den Spagat zu schaffen, zwischen vielen Regeln, die es auch geben muss, und dem möglichst individuellen Eingehen auf die einzelne Person.

Das Interview in voller Länge von David Galko, Iris Kopera, Jürgen Plank ist in der Zeitschrift BALANCER 56, 2/2013 nachlesbar.

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