Experten in eigener Sache statt leidende und passive Patienten

Paradigmenwechsel von "Fürsorge, Betreuung und Mitleid" hin zum "selbstbestimmt lebenden behinderten Menschen" - Peer Counseling ist eine wichtige Beratungstechnik, die diesen Prozess initiieren und unterstützen kann.

Symbolbild: Beratung
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Ich möchte es am Beispiel von Multiple Sklerose Betroffenen festmachen. Es macht natürlich einen Unterschied, von Geburt an eine Behinderung zu haben, die fixer Bestandteil der eigenen Identität ist oder eine Behinderung durch einen Unfall oder Erkrankung im Laufe des Lebens erworben zu haben.

Auch macht es einen Unterschied, mit einer gleichbleibenden Behinderung oder mit einer fortschreitenden Behinderung und Erkrankung zu leben. Gerade MS-Betroffene haben meist große Schwierigkeiten, zu akzeptieren, dass sich eine Behinderung entwickeln könnte.

Ein Leben im Rollstuhl kaum vorstellbar

Sie sehen sich oftmals nicht als behindert, sondern als krank und es wird versucht, diese Krankheit ein Leben lang zu bekämpfen. Ein Leben im Rollstuhl können sich die meisten gar nicht vorstellen, es geht vielmehr soweit, dass MS-Betroffene im Rollstuhl von anderen „MS-Peers“ gemieden werden.

MS-Betroffene lassen sich gerne die Rolle des „leidenden und passiven Patienten“ umhängen. Anstatt selbst zum „Experten in eigener Sache“ zu werden, flüchten sie zu verschiedenen Ärzten, Therapeuten, Pharmafirmen, Alternativmedizinern uvm. Natürlich hat die Unterstützung durch diese Berufsgruppen eine Berechtigung, dennoch fehlt hier etwas Entscheidendes.

Was uns behinderte Menschen, ob geburtsbehindert oder chronisch krank vereint, ist die alltägliche Erfahrung der Diskriminierung und Ausgrenzung. Durch diese Verbundenheit und die Erfahrung, selbst Peer Beratung und Unterstützung erlebt zu haben, sollte idealerweise Solidarität erwachsen. Und mehr Solidarität ist das, was wir unbedingt brauchen. In einer Welt und in einem Land, die heutzutage immer unsolidarischer werden.

Wir wehren uns gegen das Bild vom „armen Behinderten“

Peer Counseling ist fix verbunden mit gesellschaftlichem Protest. (Siehe auch meinen Artikel „Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt„)

Wir wehren uns gegen das Bild vom „armen Behinderten“. Wir wollen kein Mitleid und keine fallweisen Almosen. Wir sind Männer und Frauen mit Behinderung und wir haben Rechte. Es ist nicht rechtens, täglich diskriminiert und von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Und es geht hier nicht um eine besondere Bevorzugung, es geht hier um Menschenrechte, um Chancengleichheit und Teilhabe an der Gesellschaft.

Entsolidarisierung, Gesundheitswahn, inhumane Arbeitswelt, Wirtschaftskrise, Kürzungen, Einsparungen, politischer Stillstand und Rückschritt.

Behinderung und Krankheit wird es in der Menschheitsgeschichte immer geben. Behinderung und Krankheit gehören zur Vielfalt des Lebens.

Ob es in Zukunft auch noch, mehr oder gar kein „Selbstbestimmtes Leben“ für behinderte Menschen geben wird, liegt ein Stück weit auch an uns. Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt – den ersten Schritt tatsächlich setzen und angefangene Wege gemeinsam weitergehen müssen wir aber schon.

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