Flexibilität, Anpassbarkeit, Besuchstauglichkeit

Barrierefreiheit im Wohnbau - Versuch einer Klarstellung / Mein Kommentar zur am 21. August 2013 im Kulturjournal auf Ö1 gesendeten Diskussion über "Barrierefreiheit im Wohnbau"

Bauplan mit Zirkel
BilderBox.com

Wie es an der sehr emotional geführten Debatte über die Barrierefreiheit im Wohnbau ersichtlich ist, scheinen sich die Gemüter zu diesem Thema leicht zu erhitzen, wahrscheinlich weil es sich zurzeit (auch noch im Spätsommer) um eine „heiße“ Angelegenheit handelt.

Zur Klarstellung einiger Sachverhalte möchte ich mit diesem Kommentar einige bereits gefallene Argumente vervollständigen und mir wichtig erscheinende Sachverhalte ergänzen – nicht um weiter Öl ins Feuer zu gießen, sondern um im Sinne der Barrierefreiheit die Kohlen aus dem Feuer zu holen.

Bevor ich auf die im Interview besprochenen Details eingehe, möchte ich zuerst meinen Unmut zu der Form der Diskussion äußern. Meines Erachtens ist es höchst unangebracht sich unter Architekten in dieser Art und Weise (weitab von fachlicher Uneinigkeit) öffentlich zu streiten, das schadet schlussendlich nicht nur dem Berufsbild sondern der gesamten Zunft. Wenn man allerdings nur genau zuhörte, so waren sich die beiden Herren in mancher Sache doch gar nicht so uneinig.

Aus diesem Grund begebe ich mich hier auf eine lösungsorientierte Konsenssuche:

Architekt Stelzhammer fordert anstatt einer barrierefreien Wohnungsplanung eine flexible Grundrissgestaltung. Tatsächlich sind Wohnungen, die sich an verschiedene Nutzungsszenarien und Lebenslagen anpassen können zukunftsorientiert und sinnvoll. Eine Frage drängt sich dabei allerdings auf: Ist es nicht genau das was der anpassbare Wohnbau fordert?

Die bereits erwähnte OIB-Richtlinie 4 (ein in allen Bundesländern gleichmäßig gültiges Regelwerk) fordert im Wohnbau keine barrierefreien Wohnungen, sondern Wohnungen, die im Sinne der Barrierefreiheit anpassbar sind. (Das heißt die Wohngebäude müssen vom Gehsteig (oder Parkplatz) bis zur Wohnungseingangstüre alle barrierefreien Mindeststandards erfüllen; die Wohnungen selbst sollten so geplant sein, dass (vor allem) die Sanitärräume leicht und kostengünstig barrierefrei umgebaut werden können.)

Flexibilität als Schlagwort allein reicht nicht aus, denn es gilt Grundrisse zu schaffen, die sinnvollerweise in mindestens zwei Raumszenarien (regulär und barrierefrei) funktionieren. Daraus abgeleitet wäre eine Flexibilität, die synthetisch eine anpassbare Barrierefreiheit integriert genau jene Lösung, die in der Diskussion touchiert wird und schlussendlich für einen nachhaltigen und zukunftsweisenden Wohnraum sorgen könnte.

Die von Frau Oppolzer angesprochenen Mehrkosten für Barrierefreiheit sind insofern korrekt, da barrierefreie (und auch anpassbare) Sanitärräume einen etwas größeren Platzbedarf haben, aber von den 10 bis 15 % Mehrkosten kann keine Rede sein! Laut einer Studie der ETH Zürich bewegen sich die Mehrkosten für Barrierefreiheit im Wohnbau zwischen 1,5 bis 3,5 % der Baukosten. Hier stellt sich berechtigterweise die Frage, ob sich diese zusätzlichen Ausgaben auf lange Sicht nicht rentieren.

Denn diese Mehrkosten kommen mit Sicherheit nicht nur – so wie im Interview behauptet – 0,3% der Bevölkerung zu Gute. Einer bundesweiten Studie zufolge (Behindertenbericht des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz 2008, S.10) sind rund 1 Mio. Menschen in Österreich in Ihrer Beweglichkeit eingeschränkt, das sind ca. 13 % der Bevölkerung. Die Zahlen im Graubereich bei altersbedingten Mobilitätseinschränkungen liegen wahrscheinlich noch etwas höher.

Wie bereits im Interview als auch im Kommentar erwähnt, gilt es nämlich zusätzlich zu bedenken, dass die Nachfrage für barrierefreien Wohnraum aufgrund der demographischen Entwicklung in Mitteleuropa in den nächsten Jahren stetig steigen wird. Wenn man als PlanerIn über den eigenen Tellerrand blickt, so mag ersichtlich werden, dass es durchaus volkswirtschaftlich Sinn macht nicht den Altbestand flächendeckend und kostenintensiv zu adaptieren, sondern sich mit dieser Angelegenheit auf den Neubau zu konzentrieren (und nur dort wird Barrierefreiheit gesetzlich gefordert).

Wenn der Gesetzgeber auf diese Gegebenheiten mit verschärften barrierefreien Anforderungen an Wohnbauten reagiert, muss vollständigerweise auch die Pflegedebatte mitberücksichtigt werden, denn es ist nicht nur gesellschaftlich fragwürdig ältere Personen in Altersheime abzuschieben, sondern es macht auch für das Staatsbudget Sinn, wenn Menschen mit altersbedingten Mobilitätseinschränkungen möglichst lange in den eigenen vier Wänden verbleiben können, auch wenn bereits Pflegebedarf besteht.

Ich wundere mich auch über die gereizte Reaktion des Architekten Stelzhammer auf die Forderung alle Wohnungen besuchstauglich für Menschen mit Behinderung zu machen. Es herrschte nämlich Einigkeit zwischen den Diskussionspartnern über die barrierefreie Gestaltung des öffentlichen und halböffentlichen Bereichs und damit die barrierefreie Erreichbarkeit aller Wohnungstüren. Was sonst ist mit besuchstauglich gemeint?

Die Aufgebrachtheit in dieser Angelegenheit zeigt vielleicht, dass das Thema „Inklusion“ (eine vollständige Erläuterung des Begriffs ist an dieser Stelle nicht möglich, zur Information siehe) noch nicht selbstverständlich im Bewusstsein der Gesellschaft – oder der PlanerInnenriege – verankert ist.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch die Kritik von Architekt Stelzhammer an den vielfachen Bauvorschriften kommentieren. Für ArchitektInnen wirken sich die Regelwerke der Baugesetze ohne Zweifel einschränkend auf den Gestaltungsspielraum aus. Das ist jedoch ein generelles Problem, denn nur ein Bruchteil dieser Auflagen betrifft das barrierefreie Bauen.

Dennoch, denke ich, ist in Zukunft eine Loslösung von den detailgenauen Anforderungen der ÖNORM B 1600 hin zu mehr zielorientierten Vorgaben überlegenswert. Das Baugeschehen wird das strenge Korsett allerdings noch ein paar Jahre brauchen, bis das Bewusstsein für diese Thematik in der breiten Masse angekommen ist und in der Baubranche das Verständnis für Barrierefreiheit zum Selbstverständnis geworden ist.

Der Themenbereich „Barrierefreiheit im Wohnbau“ bleibt mit Sicherheit weiter „heiß“. Mir bleibt die Hoffnung, dass die herbstlichen Temperaturen die Gemüter kühlen und ich in Zukunft konstruktivere Diskussionen zu dieser Angelegenheit belauschen darf.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich