Kongresse über Behindertenrechte sind jeweils sehr ermüdend und frustrierend. Meist auch traurig, wenn einmal mehr festgehalten werden muss, wie lang der Weg noch sein wird, bis wir Behinderten als Menschen unter Menschen werden leben dürfen.
Schon die Anreise fordert gewaltig, mit ihren un- und vorhersehbaren Entwürdigungen, den Kämpfen um ein barrierefreies Hotelzimmer, der überwältigenden Hilflosigkeit, nur einmal mehr von irgend einem Hilfsdienst wie ein Gepäckstück oder wie ein unmündiges Kind verfrachtet bzw. versorgt zu werden.
Aber das Gefühl, diesen Weg nicht allein, sondern zusammen mit ein paar anderen ernsthaften, hoffnungsvollen, lieben, aber vor allem mutigen Kolleginnen und Kollegen gehen zu dürfen, lässt mich jedes Kongressende von Neuem in einer eigenartigen Hochstimmung von meinen neuen Freunden Abschied nehmen. Jedesmal treffe ich anfänglich behinderte Menschen und sage nach wenigen, viel zu kurzen Tagen lieb gewonnenen, einzigartigen Menschen wehmütig Adieu. Zusammen sind wir stark und werden es schon irgendwann schaffen! Ich fühle mich akzeptiert, manchmal sogar geliebt. Auf jeden Fall frei und stark als Mensch.
Umso schmerzlicher wirkt die kalte Dusche, die mich nach solchen Anlaessen unweigerlich wieder auf den Boden der Realität zurück holt. Diesmal im Anschluss an einen mehrtätigen Kongress in Linz. Von der Hochstimmung noch in warme Watte eingehüllt war mein seelischer Ganzkörperpanzer an diesem Morgen noch ganz weich und durchlässig. Großzügig verzieh ich den beiden Ambulanzfahrern in ihren orangen Leuchtjacken, die mich ihrem Transportkonzept gemäß vom Hotel in Linz zum Flughafen Wien zu überführen hatten, ihr übervorsorglich professionelles Gehabe.
Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit: anstatt mich einfach ausladen zu lassen, und dann klar zu signalisieren, dass die beiden Krankenwagenfahrer ihre Pflicht nun endgültig erfüllt hatten, ließ ich die beiden tun, was sie halt immer tun. In ihren Augen ist der Job erst dann ausgeführt, wenn die Fracht sicher in den Händen der nächsten Betreuungsagentur steckt. Obwohl ich selbständig bin, lassen es sich die beiden nicht nehmen, mich im Begleitschutz ihrer leuchtenden Uniformen an all den Wartenden vorbei zum Check-In-Schalter zu dirigieren. Erst vor der neuen Autorität – der rot uniformierten Dame der Austrian Airlines – verstummt ihr Diensteifer schlagartig.
Meinen Pass und Flugschein darf ich eigenhändig übergeben. Das weitere hätte ich nach 50 Jahren Behinderungserfahrung kommen sehen müssen: die Austrian Hostess war zutiefst beeindruckt. Anstatt mich zu begrüßen und dann abzufertigen wie die anderen Fluggäste – ein Ansinnen, das ich durch betont „normales“ Auftreten noch einzuleiten versucht hatte – griff sie sofort zum Telefonhörer, um sich vom Schicht-Supervisor fehlerfrei durch die schwierige Situation „talken“ zu lassen.
„Sie fliegen nach Zürich?“. „Ja“. „Können Sie selbständig ins Flugzeug gehen?“ „Nein. Es steht hier auf meinem Flugschein. Ich habe vorangemeldet, dass ich vom Rollstuhlservice zum Sitz gebracht werden muss“. „Ja, das steht auf Ihrem Flugschein registriert, aber nicht in unserem Computer“. Eine kurze Diskussion zwischen den beiden und dann die kritische Frage: „Was bitte ist … äh … also, warum genau sind Sie im Rollstuhl? Auf Grund eines Unfalls? Oder … äh … wegen einer Paraplegie oder so? Oder was ist der medizinische Grund?“
Ratsch! Mein Ganzkörperkettenhemd fällt über meine Seele wie das Falltor am Burgeingang. Dass die Dame mit meiner banalen Antwort nichts anzufangen wüsste lässt mich äußerlich lächeln, weiß sie doch offensichtlich nicht einmal, was denn so eine „Paraplegie“ überhaupt ist. Poliomelitis müsste sie folgerichtig ganz aus dem Häuschen bringen. „Verlangen Sie von allen Fluggästen eine medizinische Krankengeschichte?“ meine verblüffte Antwort. „Nein. Aber die Vorschrift verlangt das von Passagieren im Rollstuhl. Sonst können wir Sie leider nicht transportieren.“. Nun, an einem anderen Tag vielleicht hätte ich mich an diesem Punkt wohl einschüchtern lassen. Aber ich kam ja grad von einem Kongress über Behindertenrechte; fühlte mich noch ganz Mensch und stark.
Ich teilte der Dame freundlich mit, dass ich zufälligerweise meine Rechte und Pflichten als Passagier kenne, und zu dieser Auskunft nicht verpflichtet sei, so lange nicht alle Passagiere um ihre Krankengeschichte gebeten würden. Während ich doch offensichtlich erwachsen und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte sei, könnte ja unter den anderen Passagieren durchaus jemand mit einer furchtbar ansteckenden Krankheit (Ebola !) sein, uns alle tödlich anstecken oder unser Leben gravierend gefährden.
Aber zu dem Zeitpunkt war das Ende meiner hoffnungsvollen Karriere als „normaler Fluggast“, mit dem man ein normales Gespräch führen könnte, natürlich längst besiegelt. Der Supervisor kam angetrabt, setzte sein hoch professionell fachgerechtes Lächeln auf und den lang trainierten diskret überlegenen Ton in seine Stimme: „Herr Wehrli. Wir verstehen ja Ihre Emotionalität, sicher haben Sie viele schlechte Erfahrungen in Ihrem Leben gehabt. Aber hier geht es nicht gegen Sie – sondern um eine ganz klare Vorschrift, die für alle Menschen im Rollstuhl gilt. Bitte beruhigen Sie sich und verhalten Sie sich kooperativ. Wenn Sie uns die Auskunft nicht erteilen wollen, können Sie uns die Adresse und Telefonnummer Ihres Arztes mitteilen, dann werden wir uns mit ihm in Verbindung setzen und die Auskunft einholen. Das ist eine reine Formalität.“
Ich versuche noch deutlicher zu werden: „Entschuldigen Sie, Herr Novotny. Es geht hier nicht um mich, oder meinen Hausarzt. Es geht hier um eine Frage der Diskriminierung behinderter Menschen. Sie werden von mir zu diesem Punkt keine Auskunft bekommen, weil sie diese Frage nicht allen Passagieren stellen, und sie somit auch kein Recht haben, sie mir zu stellen. Meine Krankengeschichte geht Sie nichts an. Da können Sie jetzt so lange reden, wie Sie wollen, sie werden darüber weder von mir noch von meinem – übrigens nicht existenten, da ich nicht krank sondern behindert bin – behandelnden Arzt erfahren“.
Ich kann hier natürlich nicht das ganze Gespräch der nächsten 10 Minuten wiedergeben. Am Schluss jedenfalls teilt mir Supervisor Novotny offiziell mit, dass ich so lange nicht mit der Austrian Airlines befördert würde, wie ich diese Auskunft verweigere.
Gemeinsam sind wir stark, oder nicht? Im Ernstfall jedenfalls so stark, wie das schwächste Glied in unserer Kette. Wenn es mir auch das Wochenende mit meiner Familie versaut und ich am Schluss dann vielleicht kleinlaut mit dem Zug nach Zürich reisen muss (13 Stunden ohne Toilette!) – hier kann ich vielleicht wenigstens was für meine österreichischen Freunde und für alle behinderten Passagiere dieser Welt tun.
Ich richte mich seelisch auf ein sehr ungemütliches langes Wochenende am Wiener Flughafen ein. „Ich werde jetzt dort ins Kaffeehaus gehen, mir einen Kaffee und etwas zu Essen bestellen, und warten, bis Sie Ihre Vernunft wieder gefunden haben. Sollte das nicht der Fall sein bis heute Abend, werde ich ein angemessenes Hotel suchen, einen Behindertentransport dahin organisieren und dort übernachten um morgen wieder hier zu sein. Die Rechnung dafür werde ich der Austrian Airlines präsentieren“. Ich mustere all meine Energie, um diesen Satz cool und selbstbewusst über meine Lippen zu bringen. Innerlich zittere ich. Vor Wut.
Die beiden Ambulanzfahrer verabschieden sich verschämt und etwas perplex. Dann rufe ich meine Freunde in Österreich an. Ich benötige, mehr noch als praktische Hilfe, jemanden, der jetzt an meiner Seite steht. Glücklicherweise sind Freunde Freunde, wenn man sie braucht. Blitzartig entsteht ein Netzwerk. Kontakte zu den Medien sind schwierig am Samstag Nachmittag. Der Redakteur vom „Kurier“ ruft zurück und interessiert sich für die Story.
Ich kann meinen Melange trinken ohne, zitternd, alles zu beklecksen. Dann sehe ich eine Austrian Airlines Dame, die offensichtlich jemanden sucht und mich sogleich findet. Frau Michaela Gruber, ihres Zeichens „Irregularity Desk Manager“ (also Managerin für Unregelmäßigkeiten) stellt sich, wie im Krisenmanagment gut trainiert, mit vollem Namen vor und schaut mich dann sehr lange, stumm und überfreundlich lächelnd an. (Beziehung aufbauen, einschätzen ob Kunde gewalttätig, irre oder ansprechbar, Oberhand behalten, sich nicht zu spontanen Reaktionen hinreissen lassen). Offensichtlich bestehe ich das psychologische Assessment: ansprechbar.
Frau Gruber eröffnet mir feierlich, dass ich nun doch fliegen darf. Wie wenn es jetzt primär um diese Frage ginge. Ich:“OK. Danke“. Aber nun kommt, was in solchen Situationen unweigerlich zum Ritual gehört: Frau Gruber kann die Sache nicht ohne meine Absolution auf sich beruhen lassen. Ich müsste begreifen, findet sie, dass diese Vorschrift wichtig und sinnvoll sei. Schließlich ginge es der Austrian Airlines nur um das Wohl ihrer behinderten Passagiere. Natürlich wäre in meinem Fall die Entscheidung des Schichtmanagers falsch gewesen, wo ich doch offensichtlich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte sei. Aber eben zum Beispiel bei Menschen die noch behinderter seien als ich: vor wenigen Tagen z. B. habe man eine Frau von Australien kommend, die nach Schottland weiter wollte, nicht fliegen lassen, weil sie zu spastisch gewesen sei, um die obige Frage zu beantworten. Ich sei, so war sie überzeugt, der erste Behinderte, der sich gegen diese Vorschrift auflehne.
Frau Grubers Weltbild kam in den nächsten 40 Minuten schon ein bisschen ins Wanken, als ich ihr wieder und wieder erklärte, dass ich eben genau für diese behinderte Frau – und für alle anderen behinderten Menschen, die sich nicht so leicht wehren könnten wie ich – auf meine Prinzipien bestehen würde. Genau dafür, um diesen Kampf jedes Mal von neuem zu bestehen, werde ich von behinderten Menschen angestellt und zur Konferenz nach Linz geschickt. Sorry, keine Absolution.
Wir haben uns zum Schluss geeinigt, dass Austrian Airlines offensichtlich noch dazu lernen muss und dass eine Diskussion ihres diskriminierenden Verhaltens in den Medien diesen Lernprozess in Gang bringen wird. Jedenfalls war damit unsere Diskussion beendet.
Niemand entschuldigte sich bei mir. Danach wurde ich ins Flugzeug gebracht.