Das Beispiel NRW zeigt, dass ein Schulformwechsel in Deutschland von Förderschulen in allgemeine Schulen trotz des Rechts auf inklusive Bildung faktisch nicht existiert und bildungspolitisch auch nicht gefördert wird.
Selbst Förderschulen mit den Schwerpunkten „Sprache“, „Emotionale und soziale Entwicklung“ sowie „Lernen“ können nur eine klägliche Rückschulungsbilanz vorweisen. Dabei haben sie als sogenannte Durchgangsschulen das Ziel, ihre Schüler:innen erfolgreich in das allgemeine Schulsystem zurückzuführen, aus dem sie ursprünglich kommen.
Das Verfahren für den Schulformwechsel
Es bedurfte erst eines bundesweit bekannt gewordenen Skandals um die fälschliche Einstufung eines Förderschülers als „geistig behindert“, damit sich das Schulministerium in NRW zum Handeln veranlasst sah. Eine jährliche Überprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs wurde erstmals verbindlich im Detail vorgeschrieben. Allerdings nicht in der Verantwortung einer unabhängigen Stelle, sondern in der Zuständigkeit der jeweiligen Klassenkonferenz der Förderschule.
Seit 2019 muss diese im Rahmen des Überprüfungsverfahrens feststellen, ob der sonderpädagogische Förderbedarf der Förderschüler:innen noch besteht oder aufgehoben werden kann. Das Ergebnis wird auf einem Formblatt dokumentiert, den Eltern mitgeteilt und schriftlich ausgehändigt. Die Klassenkonferenz informiert die Schulaufsichtsbehörde, wenn sie zu dem Ergebnis kommt, dass der sonderpädagogische Förderbedarf aufzuheben ist. Diese trifft dann die Entscheidung und berät die Eltern.
Auch wenn der Förderbedarf fortbesteht, können Eltern den Wechsel des Förderortes bei der Schulaufsichtsbehörde beantragen. Der Schülerin oder dem Schüler wird in einem solchen Fall ein Platz an einer allgemeinen Schule vorgeschlagen. Im Fall zielgleicher sonderpädagogischer Förderung ist es eine Schule der gewünschten Schulform.
Sind Eltern mit der Entscheidung der Klassenkonferenz nicht einverstanden, können sie eine Überprüfung bei der Schulaufsichtsbehörde beantragen. Diese entscheidet auf der Basis eines sonderpädagogischen Gutachtens. Gegen die Entscheidung der Behörde können Eltern lediglich Rechtsmittel einlegen.
Schulformwechsel zum Schuljahr 2021/22
Von den ca. 81.000 Schüler:innen in nordrhein-westfälischen Förderschulen wechselten 1.775 in allgemeine Schulen. Das sind 2,2 %. 1.446 von ihnen wechselten mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf, bei 329 Schüler:innen war er aufgehoben worden. Die Gesamtschulen nahmen die meisten Schulformwechsler:innen auf (717), die Gymnasien die wenigsten (54).
7,7 % der Förderschüler:innen mit dem Förderschwerpunkt „Sprache“ gelang die „Rückführung“ in die allgemeine Schule. Bei Schülerinnen und Schülern mit „emotionaler und sozialer Entwicklung“ waren es 2,7 % und bei Schüler:innen mit dem Schwerpunkt „Lernen“ 2 %. Die Schulformwechsler:innen der übrigen Förderschwerpunkte waren mit verschwindend geringen Zahlen vertreten.
Fast alle Schülerinnen und Schüler mit den Diagnosen „Lernen“ und „Emotionale und soziale Entwicklung“ wechselten mit fortbestehendem sonderpädagogischem Förderbedarf in die allgemeinen Schulen. Ungefähr ein Drittel der Schüler:innen mit dem Schwerpunkt „Sprache“ wurde mit aufgehobenem sonderpädagogischem Förderbedarf in die allgemeinen Schulen aufgenommen.
Dürftige Ergebnisse
In der Vergangenheit verzichtete NRW – wie andere Bundesländer auch – wegen allzu geringer Zahlen auf eine statistische Erhebung der Schulformwechsler:innen. Aktuell führt das Schulministerium in NRW zwar eine Statistik dazu, aber an den marginalen Ergebnissen hat sich nichts geändert. Dabei müsste unter dem Vorzeichen von Inklusion dem Wechsel aus den Förderschulen höchste Priorität eingeräumt werden. Lediglich die Förderschule mit dem Schwerpunkt „Sprache“ kann verglichen mit anderen Förderschularten ein etwas weniger ungünstiges Leistungsergebnis vorweisen.
Die dürftigen Ergebnisse zum Schulformwechsel geben das wieder, was man schon von den Schulabschlüssen an Förderschulen weiß. Für 2020 stellte das Statistische Bundesamt fest, dass die Hälfte der Abgänger:innen ohne Hauptschulabschluss vorher eine Förderschule besucht hatte. Klaus Klemm hat das Missverhältnis von Ausgaben und Leistungsergebnis bei den Förderschulen in die Formel gefasst „Sonderweg Förderschulen: Hoher Einsatz, wenig Perspektive“.
In der gleichnamigen Studie von 2009 hat er vorgerechnet, dass jährlich zwar etwa 2.6 Mrd. Euro zusätzlich an Personalkosten für den Unterricht an Förderschulen ausgegeben werden und trotzdem insgesamt 77, 2 % der Förderschüler: innen ohne Hauptschulabschluss entlassen werden.
Förderschulen und Sonderpädagogik weisen mit der ihnen eigenen Logik die Kritik an der Ineffizienz des Förderschulsystems zurück. Wenn die jährlichen Überprüfungen des sonderpädagogischen Förderbedarfs das Ergebnis erbringen, dass dieser bei fast allen Förderschüler:innen fortbesteht, haben nicht die Förderschulen versagt.
Das Ergebnis gibt lediglich den hohen Grad an sonderpädagogischer Förderbedürftigkeit der Förderschüler:innen wieder, der ihren Verbleib an der Förderschule legitimiert. Die Akteure schützen sich auf diese Weise vor selbstkritischer Befragung und wehren gemeinsam mit der Bildungspolitik die von Kritikern geforderte Durchführung einer umfassenden externen Evaluation des Förderschulsystems und der Rolle der Sonderpädagogik bislang erfolgreich ab.
Die Rolle der Eltern
Fast alle Förderschüler:innen haben den Wechsel aus den segregierten Förderschulen in die Normalität der allgemeinen Schulen ihren Eltern zu verdanken. Auf Beschluss der Klassenkonferenz bekamen mit Zustimmung der Schulbehörde nur 26 Schüler:innen mit dem Förderbedarf „Emotionale und soziale Entwicklung“ zum Schuljahr 2021/22 die Chance auf einen Schulformwechsel. Auf Initiative ihrer Eltern konnten letztlich 448 dieser Förderschüler:innen den Übergang in allgemeine Schulen schaffen.
Dennoch ist insgesamt die Zahl der durch Eltern angeschobenen Schulformwechsel gering. Das liegt einerseits daran, dass bestimmte Förderbedarfe an den allgemeinen Schulen aus Personal- und Ausstattungsmangel nicht gut bedient werden können. Andererseits ist zu vermuten, dass viele Eltern über einen möglichen Schulformwechsel nicht hinreichend informiert oder zu wenig dabei unterstützt werden.
Auf die Frage, wie Eltern über ihre Rechte und Möglichkeiten des Schulformwechsels informiert werden, heißt es aus dem Schulministerium: „Die Schulaufsichtsbehörde berät die Eltern und informiert sie über weitere Beratungsangebote.“ Man darf Zweifel haben, ob das Informations- und Beratungsangebot der Schulaufsicht von Eltern wahrgenommen wird, die in einer benachteiligten sozialen Situation leben, wie das bei Förderschuleltern häufig der Fall ist.
Wäre es nicht Pflichtaufgabe der Förderschulen, in regelmäßigen Gesprächen mit Eltern und Schüler:innen die Möglichkeiten des Wechsels auszuloten, die Schülerinnen und Schüler für den Wechsel zu motivieren und individuelle Vereinbarungen für die Gestaltung des Übergangs zu treffen? Wäre es nicht Pflichtaufgabe der Förderschulen, in Kooperation mit Regelschulen bspw. Hospitationsmöglichkeiten zu entwickeln, um Ängste und Unsicherheiten bezüglich des Lernortwechsels bei den Förderschüler:innen abzubauen?
In strittigen Auseinandersetzungen mit Förderschulen und Schulaufsichtsbehörden sind Eltern schnell überfordert. Es braucht unabhängige Stellen, die mit Beschwerden von Eltern gegen die Überprüfungsverfahren betraut werden. Derzeit bleibt Eltern nur die hohe Hürde der gerichtlichen Klage. Aber auch sie ist kein geeignetes Mittel, weil die Erfahrung zeigt, dass Gerichte fachlich nicht in der Lage sind, sonderpädagogische Gutachten zu überprüfen und zu bewerten.
Bildungspolitisches Fazit
Während den Übergängen Kita – Grundschule, Grundschule – weiterführende Schule sowie Schule – Beruf bildungspolitische Aufmerksamkeit und Bedeutung zukommt, wird der Übergang zwischen dem System der Förderschulen und der allgemeinen Schulen chronisch vernachlässigt.
Die von der Sonderpädagogik gepflegte Vorstellung von der Förderschule als „Schonraum“ für bestimmte Kinder und Jugendliche hat auch das Förderschulsystem selbst zum „Schonraum“ werden lassen, der keiner Leistungsüberprüfung durch die Bildungspolitik unterzogen wird. Dagegen werden inklusive Angebote trotz positiver Forschungsergebnisse immer wieder und gerne darauf befragt, ob sie denn auch wirklich der Leistungsentwicklung aller Kinder dienen.
Noch einmal ein Zitat von Klemm aus seiner o.g. Studie, die zwar Landesrechnungshöfe aufhorchen lässt, aber die Bildungspolitik keineswegs zum Nach- und Umdenken veranlasst hat: „Wenn diese finanziellen Mittel (gemeint sind die 2.6 Mrd. Euro, die zusätzlich an Personalkosten für den Unterricht an Förderschulen ausgegeben werden) in ein inklusives Schulsystem mit Gemeinsamem Unterricht fließen würden, stünde je Schülerin oder Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Durchschnitt aller Bundesländer und aller Förderschwerpunkte zusätzlich zu den im allgemeinbildenden Schulsystem angesetzten Unterrichtsstunden 2,4 Wochenstunden zur Verfügung. Bei z.B. vier Schülern oder Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wären dies je Klasse zusätzlich wöchentlich etwa 10 Unterrichtsstunden.“
Alles wie gehabt im deutschen Schulwesen. Während zum Schuljahr 2021/22 in NRW 1.775 Förderschüler:innen in allgemeine Schulen wechselten, wanderten 6.565 Schüler:innen aus allgemeinen Schulen in Förderschulen. Auch hier wiederholt sich das nur allzu bekannte Muster für die vielbeschworene Durchlässigkeit des Schulsystems: immer mehr Abstiege als Aufstiege.