Forschung zur Behandlung von behinderten Kindern in Pavillon 15 des Otto-Wagner-Spitals gestartet

Mit Jahresanfang startet das Forschungsprojekt "Menschen mit Behinderung in der Wr. Psychiatrie von der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre". BIZEPS-INFO führte zum Start des Projekts mit der Leiterin Dr.in Hemma Mayrhofer ein Interview.

Hemma Mayrhofer
IRKS

„Wir möchten sichtbar werden lassen, wie verschiedene Faktoren und Ebenen zusammengewirkt und zum konkreten Umgang mit Menschen mit Behinderung in den untersuchten Einrichtungen beigetragen haben“, umreißt Projektleiterin Dr.in Hemma Mayrhofer vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) im schriftlichen Interview mit BIZEPS-INFO die anstehenden Herausforderungen.

Das Interview

BIZEPS-INFO: Warum gibt es dieses Forschungsprojekt?

Hemma Mayrhofer: Anlass für dieses Forschungsprojekt waren die Vorwürfe, die zur Lebenssituation und Behandlung von behinderten Kindern in Pavillon 15 des Otto-Wagner-Spitals vorliegen. Die Stadt Wien kündigte im Anschluss an eine interne Untersuchung der Vorwürfe an, ein umfassendes Forschungsprojekt zur Wiener Psychiatrie der Nachkriegszeit durchzuführen.

Für uns war dies ein Impuls, um ein Forschungsprojekt vorzuschlagen, in dem eine bisher in der zeithistorischen Forschung zur Psychiatrie noch kaum beachtete Personengruppe im Mittelpunkt stehen soll: nämlich behinderte Kinder und Jugendliche in psychiatrisch-neurologischen Einrichtungen der Stadt Wien in der Nachkriegszeit.

Ich halte ein Forschungsprojekt für sehr wichtig und überfällig, das sich umfassend damit auseinander setzt, unter welchen Bedingungen diese Kinder und Jugendlichen leben mussten und wie mit ihnen umgegangen wurde, denn es stehen schwere Vorwürfe zu Missständen und menschenunwürdigen Zuständen und Behandlungsweisen im Raum.

Wir freuen uns sehr, dass die Stadt Wien unseren Vorschlag aufgegriffen hat und uns der Wiener Krankenanstaltenverbund durch die Finanzierung des Projekts und durch uneingeschränkten Zugang zu den relevanten Informationen und Aktenbeständen die Durchführung der Untersuchung ermöglicht.

Um eine in die Tiefe gehende Erforschung gewährleisten zu können, stellen wir die zwei stationären Einrichtungen für behinderte Kinder und Jugendliche in Wien in den Mittelpunkt:

  1. Pavillon 15 des Otto-Wagner-Spitals und
  2. die ehemals so genannte Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder am Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel

„Gegen beide Einrichtungen liegen Vorwürfe vor“

BIZEPS-INFO: Um welche Fragen geht es?

Hemma Mayrhofer: Gegen beide Einrichtungen liegen Vorwürfe vor: Beim Rosenhügel betreffen sie mehr die medizinische Behandlung, bei Pavillon 15 stärker pflegerisch-betreuerische Aspekte.

Wichtig ist uns dabei, diese Einrichtungen und ihre Umgangsweisen mit behinderten Kindern und Jugendlichen nicht isoliert zu betrachten. Vielmehr werden wir sie im institutionellen, rechtlichen, wissenschaftlich-disziplinären und gesellschaftlichen Kontext der Wiener Psychiatrie und Behindertenhilfe insgesamt verorten.

Dadurch möchten wir sichtbar werden lassen, wie verschiedene Faktoren und Ebenen zusammengewirkt und zum konkreten Umgang mit Menschen mit Behinderung in den untersuchten Einrichtungen beigetragen haben.

Wie setzt sich das Forschungsteam zusammen?

BIZEPS-INFO: Auf der KAV-Homepage steht: „Das Forschungsteam ist interdisziplinär zusammengesetzt und verfügt über fundierte inhaltliche Expertise und Forschungserfahrung in den Bereichen Disability Studies, Behindertenhilfe, Behindertenrechte, Medizingeschichte, Psychiatriegeschichte, Kinder- und Jugendwohlfahrt, Geschichte des Fürsorgesystems, Heimerziehung und totale Institutionen.“ Was darf man sich darunter konkret vorstellen? Wer wird im Forschungsteam mitarbeiten?

Hemma Mayrhofer: Wir haben bei der Zusammensetzung des Forschungsteams sehr darauf geachtet, dass wir von unseren Kompetenzen und Erfahrungen her auch in der Lage sind, unsere Forschungsinhalte umfassend und aus verschiedenen Perspektiven ergründen zu können.

Ich forsche als Soziologin etwa seit vielen Jahren zu Fragen der Lebenssituation, den Teilhabemöglichkeiten, Unterstützungsangeboten und der rechtlichen Situation von Menschen mit Behinderung.

Die Historikerin Gudrun Wolfgruber von der FH Campus Wien hat einen speziellen Forschungsschwerpunkt auf Kinder- und Jugendwohlfahrt, Genderforschung sowie der Geschichte der Psychoanalyse. Wir haben beide auch im Forschungsteam der Kommission Wilhelminenberg mitgearbeitet.

Walter Hammerschick ist promovierter Jurist und verfügt über 20 Jahre sozialwissenschaftliche Forschungserfahrung zu (straf-)rechtlichen Themen sowie zu totalen Institutionen am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie.

Die Historikerin Katja Geiger bringt wichtige medizinhistorische Expertise ins Forschungsprojekt ein, u.a. auch zu Medizin im Nationalsozialismus.

Arno Pilgram wird uns beratend unterstützen, er ist habilitierter Rechts- und Kriminalsoziologe und befasste sich unter anderem jahrzehntelang mit der Geschichte totaler Institutionen und der öffentlichen Erziehung Jugendlicher.

Der Historiker Rudolf Leo von der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands wird uns zu ausgewählten Fragestellungen mit externer Expertise unterstützen. Er war ebenfalls im Forschungsteam der Kommission Wilhelminenberg dabei.

BIZEPS-INFO: Wer ist Teil des wissenschaftlichen Beirates?

Hemma Mayrhofer: Im wissenschaftlichen Beirat berät uns der Medizin- und Gesundheitssoziologie Rudolf Forster, der ein ausgewiesener Experte in Bezug auf Psychiatrie und Behinderung ist – und zugleich auch ein wissenschaftlicher Zeitzeuge: Er führte bereits in den 1970er Jahren eine soziologische Studie im psychiatrischen Krankenhaus „Baumgartner Höhe“ durch, also dem heutigen Otto-Wagner-Spital.

Mit Darja Zavir?ek von der Universität Ljubljana werden wir von einer Expertin für Disability Studies, medizinische Anthropologie und Genderfragen unterstützt.

Gert Lyon ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, der sowohl die medizinische Praxis der 70er und 80er Jahre bestens kennt als auch die Veränderungen in der Folge der Psychiatriereform.

Und die klinische Psychologin und Sozialarbeiterin Elisabeth Raab-Steiner berät uns speziell bei Fragen des Umgangs mit traumatisierten Personen.

Was ist geplant zu erkunden?

BIZEPS-INFO: Der KAV meinte bisher: „Das Verhalten der MitarbeiterInnen entsprach den in den 1960ern bis 1980ern üblichen Betreuungs- und Behandlungsmethoden„. Laut Forschungsprojekt („Ausgangslange und Zielsetzung“) wird dies überprüft. Wie genau kann man sich diese wissenschaftliche Aufklärung vorstellen? Was ist geplant zu erkunden?

Hemma Mayrhofer: Wie ich vorhin bereits betont habe, wollen wir die beiden im Zentrum stehenden stationären Einrichtungen und die dortige Lebens- und Betreuungssituation für behinderte Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Perspektiven betrachten.

Zugleich versuchen wir, möglichst verschiedene Daten- und Informationsquellen zugänglich zu machen. Wir werden umfangreiche Aktenrecherchen in diversen Archiven durchführen. Wir hoffen, dass uns viele Gespräche mit betroffenen Personen und Angehörigen gelingen werden. Wir werden mit Personen sprechen, die damals in den Einrichtungen oder in deren Umfeld gearbeitet haben.

Ergänzend recherchieren wir anstaltsinterne und -externe Statistiken über Personalausstattung, PatientInnen-Zahlen und die materielle Ausstattung. Weiters schauen wir uns die zeitgenössische medizinische Diskussion an und analysieren die relevanten vormundschaftsrechtlichen, pflegschaftsrechtlichen und jugendwohlfahrtsrechtlichen Bestimmungen.

Die unterschiedlichen Informationen, Erfahrungen und Erinnerungen verknüpfen und konfrontieren wir miteinander, um so ein möglichst genaues und gültiges Bild vom Lebens-, Behandlungs- und Betreuungsalltag in den beiden untersuchten Einrichtungen zu erhalten.

Mayrhofer: „Wir bitten um Unterstützung“

BIZEPS-INFO: Wohin können Interessierte Information schicken bzw. wie können diese Personen mit Ihnen in Kontakt treten?

Hemma Mayrhofer: Wir bitten alle Personen, die eigene Erfahrung mit den beiden untersuchten Einrichtungen haben, sich bei uns zu melden. Auch wenn Sie uns einen Kontakt zu Personen herstellen können, die selbst oder deren Angehörige in den Einrichtungen waren, bitten wir Sie um Unterstützung.

Sie können mir entweder eine E-Mail schreiben hemma.mayrhofer@irks.at oder Sie können per Post Kontakt aufnehmen:

Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie
z. H. Hemma Mayrhofer
Museumstraße 5/12
1070 Wien

Ich bedanke mich im Voraus bei allen, die uns so helfen, diese wichtige Forschung durchzuführen.

BIZEPS-INFO: Wir danken für das Interview.

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