Friedrich Zawrel erzählt seine Geschichte

Ich wuchs bis 1939 bei Pflegeeltern in Kaiserebersdorf auf. Nachdem Hitler einmarschiert ist, kam die Anordnung des Reichsgerichts, dass ich wieder zu meinen leiblichen Eltern kommen sollte.

Friedrich Zawrel
Blickpunkte

Ich kannte meine Mutter, aber meinen Vater habe ich davor nie gesehen. Dennoch kam ich im Alter von zehn Jahren zu meinen Eltern zurück.

Ich ging damals in die Schule in der Hörnessgasse und die Schüler trugen bereits alle die Hitler-Jugend-Uniform oder zumindest das Abzeichen der HJ. Einer meiner Mitschüler hatte schon eine grüne Schleife und war „Scharführer“. Ich war in der Klasse der einzige, der nicht bei der Hitlerjugend war. Aufgefallen ist mir nur, dass der Klassenvorstand mich in die letzte Reihe geschickt hat. Dort bin ich dann sitzengeblieben und wurde auch nie von ihm während des Unterrichts etwas gefragt. Ich bin kein einziges Mal zur Tafel gerufen worden und selbst bei der Kontrolle der Hausaufgaben ist er an mir vorbeigegangen. Das ist mir damals als Kind schon aufgefallen. In den Pausen ist der Lehrer dann zu mir gekommen und hat mich gefragt:

„Warum gehst du nicht zur Hitler-Jugend?“ oder „Warum gehst du nicht zu den Heimabenden?“. Ich war aber ein ruhiges Kind und das machte die Angelegenheit noch schlimmer und der Druck wurde immer stärker.


Eines Tages kam ich nach Hause und sagte zu meiner Mutter: „Mama, ich halte es in der Schule nicht mehr aus. Ich muss zur Hitler-Jugend gehen und brauche eine Uniform.“ Damals mussten die Eltern die Uniformen bezahlen. Meine Mutter sagte daraufhin zu mir: „Fritzerl, kränk ́ di ned. Du derfst ned zur Hitler-Jugend!“ Eine Welt brach für mich zusammen, denn es gibt keine größere Schande für einen Jugendlichen, als von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein. Auf mein Nachfragen, was ich gemacht hätte, meinte sie „Nimms ned tragisch, dein Vater darf auch ned einrücken. Er ist wehrunwürdig.“

Damals gab es noch Sippenhaftung und wir waren eine nicht förderungswürdige Familie. Es kam dann soweit, dass ich immer ruhiger wurde und einer meiner Mitschüler meinte dann sogar: „Lassts den Deppaten in Ruh ́, der is wahrscheinlich a Jud und der derf gar ned in die Hitler-Jugend!“ und ein zweiter meinte: „A Jud kann er ned sein, da wär ́ er schon längst in einem KZ.“ Die Mitschüler, die auch noch Kinder waren, haben also schon gewusst, dass es für Menschen, die nicht willkommen waren im Dritten Reich, Konzentrationslager gab. Ich habe es dann überhaupt nicht mehr ertragen dauernd beschimpft und sekkiert zu werden und deshalb beschloss ich, nicht mehr in die Schule zu gehen. Meiner Mutter habe ich aber vorgetäuscht, dass ich in die Schule gehe. In der Früh ging ich fort und spazierte in der Gegend herum. Zur richtigen Zeit kam ich heim und erledigte die Hausübungen, die ich nie bekommen habe.

Einige Tage ging das gut, bis einmal um sechs Uhr früh jemand an der Wohnungstür klopfte. Meine Mutter öffnete die Tür und einer der Männer fragte, wo ich denn sei. Ich musste mich anziehen und mit den zwei Beamten mitgehen. Meine Mutter hat gefragt, was sie mit mir vorhaben. Der Beamte antwortete darauf: „Fragens nicht viel, sonst hörens die Antwort an einer anderen Stelle ganz laut!“ Ich kam dann in die Kinderstelle und nach acht Tagen kam ich in die Jugendfürsorgeanstalt am Spiegelgrund. Das waren die Pavillons 1,3,5,7,9 und 11.

Ich bin dort Doktor Gross vorgeführt worden, der mit mir nicht gesprochen hat, sondern mich vermaß. Am Schluss sagte er zur Schwester: „Er kommt zur unterrichtslosen Gruppe.“ Also kam ich auf Pavillon 9 und durfte dort nicht mehr lernen.

Nach einiger Zeit kam ich in die Dreherstrasse, in ein ehemaliges Kloster. Dort waren nur Kinder untergebracht, deren Väter Alkoholiker, so wie mein Vater es war, oder Schwerkriminelle waren. Die Kinder haben aber nie jemandem etwas getan. Seitdem weiß ich, dass man auch ohne Schuld schuldig werden kann. Nach einiger Zeit kam ich auch dort wieder weg und wurde nach Ybbs an der Donau verlegt. Das war eine Psychiatrie und dort waren viele, die später in Hartheim umgebracht wurden. Es gab eine Jugendabteilung, die als Außenstelle vom Spiegelgrund geführt wurde. Wir waren nur von einem Gitter von den Erwachsenen getrennt und einer der Erwachsenen hat mich um Essen angebettelt. Ich gab ihm ein paar steinharte Brotreste durch das Gitter.

Das löste einen Tumult aus und die Pfleger kamen gleich gelaufen, um die Ruhe wiederherzustellen. Was die Pfleger mit mir machten, nachdem ich zugab, dass ich dem Hungrigen die Brotreste gegeben habe, kann ich fast nicht mehr erzählen, denn das würde heute keiner glauben. Die haben mich so geschlagen, dass ich überall blutig war. Dann haben sie mich über eine steinerne Wendeltreppe in den Zellentrakt hinuntergestoßen. Dort haben sie mich auf einen Tisch gelegt und mit ihren Schlagstöcken haben sie mir das Gesäß kaputtgeschlagen und mich anschließend in eine Zelle gesperrt, in der alles aus Beton war.

Sogar das Bett und die Kopfpolsterauflage. Wasser gab es keines, das musste von draußen aufgedreht werden. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort war, aber nach einiger Zeit kam der Leiter, ein gewisser Herr Strunz, der vorher in Eggenburg war und meinen Onkel kannte. Er hat angeordnet, dass ich zum Arzt vorgeführt werden muss. Ich kam also zum Arzt und auch der hat nicht mit mir gesprochen sondern nur geschaut.

Ich sagte am Schluss zu ihm: „Herr Doktor, ich hab ein ganz wundes Gesäß und kann nicht sitzen und nur am Bauch liegen!“ Daraufhin meinte er: „Das soll auch lange weh tun, damit du dir merkst, dass das, was du getan hast, verboten ist.“ Aber was habe ich denn gemacht? Ich habe nur ein paar Brotreste gegeben damals eine Untat.

Ich kam dann wieder in meine Gruppe zurück, aber der Saal mit den Erwachsenen war leer. Ein anderes Kind sagte damals schon zu mir: „Die Nazis drahn die Deppatn ham.“ Ich dachte mir, dass ich ja nicht deppat bin und deswegen kann mir nichts passieren. Das war ein großer Irrtum!

Von Ybbs kam ich dann in die Erziehungsanstalt nach Mödling und dort sofort in die Strafgruppe. Wieso ich ausgerechnet in die Strafgruppe kam, weiß ich nicht. Es war jedenfalls eine ganz fürchterliche Zeit. Am schlimmsten waren die politischen Schulungen von 18 bis 20 Uhr abends. Ich fragte einmal den Pfleger Storch: „Der Führer hat mich ausgeschlossen, wieso muss ich dann mitlernen?“ Er sagte nichts darauf, sondern gab mir nur zwei kräftige Ohrfeigen.

Ich habe also gelernt und auch nach dem Unterricht noch alles noch einmal wiederholt. Das tat ich, weil ich keine „Raffassiade“ auslösen wollte. Die „Raffassiade“ war eine Erfindung des Erziehers Ferdinand Raffes. Wenn einer der Buben mitten in der Nacht geweckt wurde, musste er Fragen, wie zum Beispiel: „Wann wurde unser Führer geboren?“ beantworten. Wenn da nicht, wie aus der Pistole geschossen die Antwort „Am 20.4.1883“ kam, wurde die „Raffassiade“ ausgelöst und alle mussten im Tagraum am feuchten Fließenboden, nur mit Unterhose bekleidet, „froschhüpfen“.

Immer wenn man beim Erzieher vorbeikam, musste man einmal den linken und einmal den rechten Fuß heben und man bekam mit einem Stab einen Schlag auf die Fußsohle. Das tat unglaublich weh und manche sind in der Früh nicht mehr in die Schuhe hineingekommen. Deswegen wollte ich so was nicht auslösen. Mir ist es aber trotzdem passiert.

Der Erzieher Glaubenkranz weckte mich auf und fragte mich nach dem ledigen Namen der Mutter des Führers. „Klara“ wusste ich gleich, aber statt „Pölzl“ sagte ich „Klara Pölzlinger“ und löste damit die „Raffassiade“ aus. Damals dachte ich mir, dass es reicht und das ich da nicht mehr mitmache. Mir war egal, was sie mit mir machen, auch wenn sie mich erschlagen oder umbringen sollten. Damals dachte ich, dass es nirgends schlimmer sein kann, als in der Strafgruppe in Mödling. Ich habe mich in meinem Leben oft geirrt und auch das war leider ein Irrtum.

Als meine Peiniger merkten, dass die Schläge und der Nahrungsentzug zu nichts führten, haben Sie mich zu einem Psychiater namens Winkelmeyer gebracht. Dieser war damals der Direktor des Wilhelminenberg. Er hat mir ein paar Fragen gestellt und anschließend in einem Buch etwas notiert. Dann holte er die Heimmutter, Dr. Hell, und er wies mich in die Euthanasieklinik am Spiegelgrund ein. Zwei Tage später haben sie mich zum Steinhof geführt. Ich habe mich bei den Türen festgekrallt aber es nutzte nichts, zwei kräftige Pfleger haben mich auf Pavillon 17 gebracht.

Dort war eine Abteilung für Jugendliche, die offensichtlich ganz normal waren. Da waren Sportler dabei, aber alle waren als schwer erziehbar eingestuft. Dort war Dr. Illing, ein Preuße, tätig, um festzustellen, ob man noch erziehbar ist. Falls Illing also zum Schluss kam, dass man nicht mehr erziehbar ist, wusste man schon, dass man umgebracht wurde.

Ich wollte das verhindern und flüchten. Dabei haben sie mich allerdings erwischt und ich wurde neun Monate in eine karge Zelle, nur mit einer Toilette aus Beton ausgestattet, im ersten Stock eingesperrt. Ich bin ständig auf und abgegangen. Andauernd bekam ich Medikamente, obwohl ich gar nicht krank war und permanent tat mir alles weh. Ich konnte zeitweise gar nicht mehr sitzen. Ich fragte den Pfleger Dvorschak: „Wieso muss ich die Medikamente nehmen? Ich bin ja nicht krank!“, bekam aber keine Antwort.

Direkt habe ich nie gesehen, dass ein Kind umgebracht wurde. Aber bei einem Fenster war ein kleiner Spalt und von dort habe ich zu Pavillon 15 hinüber gesehen. Einmal habe ich zufällig gesehen, dass ein Holzkarren, mit einer Plane darüber, vor dem Eingang stand. Ich sah dabei selbst, dass Kinderkörper unter diesen Planen lagen. Sechs kleine Arm und Beinpaare sah ich unter diesen Planen herausragen. Ich bin dabei sehr erschrocken, denn da waren die Gerüchte, die ich zuvor hörte, für mich bestätigt.

Ich wurde dann noch schlimmer gefoltert. Ich musste die sogenannte „Wasserkur“ mitmachen und wurde mit nassen Leintüchern gefesselt. Ich wusste, dass immer um 14 Uhr die Kinder, die zur Tötung vorgesehen waren, zum Pavillon 15 geführt wurden. Jedes Mal um 14 Uhr habe ich gezittert es war furchtbar. Eines Tages ging um 14 Uhr die Tür auf und ein Pfleger holte mich ab. Ich hoffte, dass wir in eine andere Richtung gehen würden. Wir gingen aber Richtung Pavillon 15 und bogen nicht ab. Wenn ich unter einer Dusche stehe, werde ich nicht so nass, wie ich damals war. Im ersten Stock kam ich in einen kleinen Raum. Der Pfleger sagte zu mir: „Vollkommen ausziehen!“ Ich habe mich dann bis auf die Unterhose ausgezogen. Der Pfleger sagte: „Auch die Unterhose.“ Ich zitterte nur mehr und hatte riesige Angst.


Dann ging eine andere Tür auf und Dr. Illing sagte zu mir, dass ich reinkommen soll. Ich hatte viel Angst vor ihm und ging mit gesenktem Kopf an ihm vorbei. Ich musste mich in diesem Raum auf ein Podest stellen und Illing fing an zu reden. Ich hob meinen Kopf und stellte fest, dass ich in einem Hörsaal war und dieser war voll mit zukünftigen Krankenpflegerinnen. Alle so um die 15-20 Jahre alt. Das war für mich so demütigend und das war das letzte Mal, dass ich zu beten anfing. Ich habe zu Gott gesagt: „Bring mich um!“ Illing zeigte den Mädchen, was bei mir alles schon äußerlich darauf hindeutet, dass ich ein minderwertiges Leben sei.


Er beendete dann den Vortrag mit den Worten: „Die Fortpflanzung solcher Kreaturen verschmutzt nur das deutsche Blut!“ und dabei hat er mich mit einem Stab auf das Gesäß geschlagen. Aber noch mehr tat mir weh, dass ich vor diesen Mädchen so bloßgestellt war. Ich konnte lange nicht normal mit einem Mädchen zusammen sein. Ich bin dann vom Spiegelgrund geflüchtet. Illing meinte, ich sei nicht erziehbar. Eine junge Krankenschwester, die ich nachher nie mehr gesehen habe, verhalf mir zur Flucht, indem sie mir die Wäsche gab und die Tür nach außen offen ließ. Sie sagte nur: „Renn!“ und ich rannte.

Erst dachte ich noch, dass es vielleicht eine Falle sei, aber ich lief und lief immer weiter. Hinter mir hörte ich plötzlich Schreie: „Stehenbleiben!“, aber ich lief weiter, bis ich nicht mehr konnte. Ein Mann verfolgte mich und fragte mich, ob ich vom Spiegelgrund geflüchtet sei. Er ließ mich dann auf der Stange seines Fahrrades sitzen und ist mit mir schnell nach Hütteldorf in seine Wohnung gefahren. Dort lebte seine Frau und sie gaben mir Wäsche von ihrem Sohn, Essen und ein paar Reichsmark. Sie wollten aber, dass ich niemandem sage, wer mir geholfen hat.

Die Krankenschwester, Rosi hat sie geheißen, habe ich aber nie wieder gefunden. Ich hab nur von Gerüchten gehört, dass sie einen Amerikaner geheiratet hat und in den USA lebt. Ich weiß ja leider nicht einmal ihren Familiennamen.

Ich hatte dann lange nichts zu essen und deswegen habe ich dann am Nordbahnhof ein Packer mit Lebensmittel gestohlen. In dem Augenblick haben sie mich aber verhaftet und ich wurde verurteilt zu zwei bis vier Jahren. Am 3. April 1945 mussten die Kräftigeren zur Front einrücken und die Schwachen, zu denen ich gehörte, wurden bei der Reichsbrücke in Schleppboote eingeschifft. Während der langen Fahrt auf der Donau bis nach Regensburg bekam ich fast nichts zu essen.

Die ganze Fahrt dauerte etwa drei Wochen und ich kam ins Kreisgerichtliche Gefangenenhaus. Am nächsten Tag wurde der Frachtenbahnhof, der gleich nebenan gelegen ist, von den Amerikanern bombardiert. Ich dachte, die Welt geht unter. Leider Gottes haben sie auch einen Trakt des Gefängnisses getroffen und es gab viele Tote. Am nächsten Tag war es ruhig und einer schrie: „Aus Afrika kommens jetzt heim!“.

Das war aber ein Irrtum, das wusste ich, als ich den ersten Jeep mit dem Stern vorne drauf sah. Dabei sah ich das erste Mal in meinem Leben einen Schwarzafrikaner. Alle Türen wurden aufgesperrt und zwei Offiziere entließen uns. Ich hatte aber große Angst vor dem Schwarzafrikaner, weil er seine Zähne immer fletschte. Nachher bekam ich aber von ihm meinen ersten Kaugummi und dann wusste ich, warum er immer mit den Zähnen fletschte. Ich musste dann meine Geschichte erzählen und alles wurde notiert.

(Der Beitrag erschien in Blickpunkte 3+4/2014.) / Friedrich Zawrel starb am 20. Februar 2015. / Siehe auch Interview auf Gedenkstätte Steinhof.

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2 Kommentare

  • Damals leider die NS, heute leider die IS, keiner kann dies nachvollziehen.

  • SEINE GESCHICHTE NIE VERGESSEN!

    Es ist unmöglich, nur annähernd das Unrecht nachempfinden zu können, welches, so wie Friedrich Zawrel, auch tausenden Anderen widerfahren ist.

    Hatte man geglaubt, dass die NS-Zeit und Greueltaten längst vorbei wären, musste Friedrich Zawrel noch bis 1981 unter den Fängen der NS-Psychiatrie leiden.

    UNFASSBAR, was er aushalten musste und was er überstanden hat. Auch wenn man es nicht Ungeschehen machen kann, waren es für mich unheimlich berührende Momente, dass jemand große Verdienst- und Ehrenzeichen verliehen bekam, von dem man aus tiefster Überzeugung wusste, dass er diese verdient hat, nämlich Friedrich Zawrel; hat er doch unermüdlich Zeugnis über diese Greuel der Nazizeit abgelegt und damit einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung der nachkommenden Generationen geleistet.

    Eine wirkliche Wiedergutmachung wäre ohnedies unmöglich gewesen!