Friedrich Zawrel: „Gross bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine“

Die Geschichte des Friedrich Zawrel, der die NS-Euthanasie am Spiegelgrund überlebte und seinem Peiniger, Psychiater Heinrich Gross, auch nach dem Krieg nicht entkam.

Friedrich Zawrel
Blickpunkte

Eine Gesprächsrunde zum Fall Gross, der NS-Euthanasie und dem Spiegelgrund:

  • Friedrich Zawrel ist 1929 geboren und war als Kind Opfer des Psychiaters Heinrich Gross am Spiegelgrund. Nach dem Krieg wurde er bis 1981 wegen minderschwerer Verbrechen unter maßgeblicher Einwirkung des Gerichtspsychiaters Gross in der Justizanstalt Stein eingesperrt.
  • Werner Vogt ist Arzt, kritischer Mediziner und war Pflegeombudsmann. Er besuchte Zawrel in der Justizanstalt Stein und wurde von Gross wegen Verleumdung angezeigt. Vogt hat den Fall Gross aus nächster Nähe beobachtet und in mehreren Büchern analysiert.
  • Wolfgang Neugebauer ist österreichischer Geschichtsforscher und war langjähriger wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW).

Herr Neugebauer, Sie sind vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. Ich sehe in der Geschichte von Herrn Zawrel, dass es doch einige Menschen gegeben hat, die während dem Nazi-Terror anderen Menschen geholfen haben. Waren das wirklich nur einzelne, mutige Menschen oder waren die schon organisiert?

Neugebauer: Es gab in der Bevölkerung ein breites Spektrum an Verhaltensweisen. Von mörderischen Ärzten bis zu einfachen Menschen, die Verfolgten geholfen haben, gab es alles. Wir vom DÖW haben uns immer bemüht, das ganze Spektrum von Widerstand und Opposition aufzuzeigen. Nicht nur den politisch organisierten Widerstand von Kommunisten, Christlich-Sozialen und Sozialisten, sondern auch den von einfachen Menschen.

Besonders gefährlich war es für Menschen, die den Juden geholfen haben. Da wurde man schnell erschossen oder kam in ein KZ. Ich bin Herrn Zawrel und Herrn Vogt sehr dankbar, denn sie waren es, die uns auf das Thema NS-Euthanasie aufmerksam machten. In den 1970er-Jahren war das noch kein Thema. Erst in einem Zeitungsinterview im Kurier erzählte Herr Zawrel von seiner Begegnung mit Dr. Gross. Dann kam es zu einem Ehrenbeleidigungsprozess von Gross gegen Dr. Vogt, und es gab eine breite Solidaritätsbewegung, die auch von mir unterstützt wurde. So kam ich zum Thema Steinhof und Spiegelgrund und dafür bin ich dankbar, denn ich habe mich dann viele Jahre damit beschäftigt.

Glauben Sie, dass die Bevölkerung damals gewusst hat, was am Spiegelgrund passiert?

Vogt: Man wusste es. Diejenigen, die am Steinhof gearbeitet haben, wussten alle davon. Auch die Leute draußen wussten es. Ich habe die Geschichte der Krankenschwester Anna Wödl publiziert, die damals zwei Mal nach Berlin fuhr, um gegen die Tötungen zu protestieren. Sie hatte selbst ein leicht behindertes Kind und war deswegen vermutlich so engagiert. Man hat also davon gewusst und es gab sogar Proteste vor den Toren vom Steinhof. Ihr Kind ist trotzdem umgebracht worden. Unvorstellbare Geschichten haben sich damals abgespielt. Sie selbst hat vom Kardinal Innitzer 20 Schilling als Entschädigung bekommen.

Neugebauer: Es gab kaum einen Bereich der Nazi-Verbrechen, der so viel Widerstand hervorbrachte. Das hat bei den Angehörigen angefangen, die wussten, dass die Todesurkunden gefälscht wurden. Auch die Kirchen haben Stellung genommen und protestiert. Hitler wollte keine Unruhe und die große Mordaktion „T4“ wurde dann 1941, aufgrund des Widerstands der Bevölkerung, abgebrochen.

Vogt: Die „wilde Euthanasie“ ist bis weit nach 1945 weitergegangen.

Wie kam es zur Klage durch Herrn Gross?

Vogt: Ende der 1970er wusste ich bereits, dass es den Spiegelgrund gegeben hatte und dass Gross dort tätig war. Ganz konkret habe ich es dann durch das Interview im KURIER erfahren. Ich war damals in einer Gruppe „Kritische Medizin“ tätig. Ein Kollege von mir hat schon damals immer wieder über die NS-Euthanasie berichtet. Er fand heraus, dass in Salzburg ein Kongress der forensischen Mediziner stattfinden würde. Gross und Harrer sollten dort reden.

Wir meinten, dass es ein Skandal ist, dass die Leute die wenige Jahre zuvor Kinder umgebracht haben, jetzt wissenschaftliche Vorträge über die Tötungen durch schizophrene Geisteskranke halten. Wir beschlossen, diese Tagung auf den Kopf zu stellen und wir sind dann auch nach Salzburg gefahren. Es kamen Aktivisten aus Wien, Linz, Salzburg und Innsbruck und wollten an diesem Kongress teilnehmen. Die Veranstalter haben aber herausgefunden, dass wir etwas planen. Wir haben zuvor ein Flugblatt verteilt und uns wurde verboten, daran teilzunehmen.

Es kam zu einem Kompromiss und so kamen nur drei von uns hinein. So kamen der Psychologe Hexel, ein praktischer Arzt aus Innsbruck, Dr. Nemetz, und ich in den Saal. Wir nahmen also teil und nach der Eröffnungszeremonie erbat ich mir das Wort und stellte den Antrag, dass das Thema, das Herr Gross behandeln sollte, nämlich über die Tötungsdelikte VON Geisteskranken, abgeändert wird auf Tötungsdelikte AN Geisteskranken, weil da hat er ja hundertfache Erfahrung. Es kam zu einem Tumult und zu Schreiereien. Die Staatspolizei führte mich ab, aber dasselbe wiederholte sich noch zweimal, bis keiner mehr von uns drinnen war. Diese Aktion führte dazu, dass die Öffentlichkeit noch mehr sensibilisiert wurde. Es war immer klarer, wer die Täter und wer die Opfer waren.

Gross hat die Rede dann abgesagt und die Rede wurde ja von jemand anders gehalten. Wer war das?

Vogt: Ja, das war ein Schüler von Gross, Heinz Pfolz, der mit mir studiert hat. Er hat damals auf uns eingeredet, dass wir Ruhe geben sollten.

Wie war dann der Prozess?

Vogt: Der Kurier berichtete am nächsten Tag mit der Schlagzeile „Staatspolizei schützt NS-Ärzte.“ Das war auch wieder ein deutliches Signal. Gross wurde immer mehr in den Vordergrund gerückt und machte dann den Fehler, dass er mich wegen übler Nachrede durch den Satz aus dem Flugblatt:

„Nun also macht sich Dr. Gross, der selbst an der Tötung mehrerer hundert angeblich geisteskranker Kinder mitbeteiligt war, selbst über die Tötungsdelikte von Geisteskranken her.“ angezeigt hat. Wir hatten damals das Problem, dass wir keinen Zugang zu den Krankengeschichten hatten. Es gab aber ein paar Leute, die uns unterstützt haben und uns Aktenmaterial zur Verfügung stellten.

Ich wusste auch durch den Kurier-Artikel von Friedrich Zawrel und wollte diesen besuchen. Ich meldete mich also beim Anstaltsleiter in Stein, Hofrat Schreiner, einem sehr lieben Anstaltsdirektor, an. Schreiner war sehr glücklich, dass ich Herrn Zawrel besuchen würde. Er war zutiefst davon überzeugt, dass Zawrel hier schweres Unrecht passiert. Ich fuhr also in die Justizanstalt Stein und lernte Friedrich kennen.

Es hat mich irrsinnig beeindruckt, dass er seine kleine Einzelzelle zu einer „Studierstube“ umgebaut hat. Erst in Stein ist er das erste Mal in der Situation gewesen, dass man ihn nicht an der Bildung behinderte. Schreiner sorgte dafür, dass er alles bekam, was er brauchte. Ich fragte also Zawrel, ob er bereit wäre bei meinem Prozess als Zeuge auszusagen und seine Erlebnisse vom Spiegelgrund zu erzählen. So kam es, dass Zawrel als Zeuge aussagte.

Der erste Richter, Bruno Weis, hat sich sehr geärgert, weil er es für eine unglaubliche Frechheit hielt, dass ein Häftling aus Stein gegen den geschätzten Doktor Gross aussagt. Bruno Weis hat Zawrel auch nicht ernstgenommen und ihn herabgewürdigt, so wie das eben manche Richter vom Format eines Bruno Weis gut können. Obwohl Zawrel also ausgesagt hat und wir auch Krankengeschichten vorlegen konnten, wurde ich wegen übler Nachrede verurteilt.

Natürlich habe ich gleich berufen und in der zweiten Instanz wurde ich dann Anfang 1981 durch einen DreiRichter-Senat freigesprochen. Es wurde festgehalten, dass alles, was ich gesagt habe, auch die Wahrheit war. Es wurde auch festgehalten, dass Gross in 16 Fällen bei seinen Aussagen gelogen hatte ein tolles Urteil!

Neugebauer: Der Skandal bestand dann darin, dass dieses Gericht rechtskräftig festgestellt hat, dass Dr. Gross in Tötungshandlungen und Mord involviert gewesen ist.

Vogt: Ein Fall war im Urteil genau beschrieben. Der Fall der „Elisabeth Schreiber“. Der wurde genau rekonstruiert. Gross suchte das Kind in Znaim auf, organisierte den Transport zum Spiegelgrund und dort wurde vermessen und begutachtet. Nachdem sein Gutachten in Berlin freigegeben wurde und das „Ja“ zur Behandlung, Behandlung hieß Mord, kam, hat Gross die Tötung veranlasst. Von der ersten Sekunde bis zum Tod war Gross zuständig.

Neugebauer: Der logische Schluss nach diesem Urteil wäre gewesen, dass die Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen Gross wegen Mord einleitet. Dazu ist es aber nie gekommen. Erst 15 Jahre später habe ich den ganzen Mechanismus durchschaut, als die Grünen parlamentarische Anfragen an den Justizminister gestellt haben.

Damals schuf das Justizministerium ein Rechtskonstrukt, das aussagt, es handelte sich nicht um Mord, sondern um Totschlag nach deutschem Strafrecht und ist damit verjährt. Es handle sich nicht um Mord, weil man bei der Tötung von Geisteskranken keine heimtückische Absicht unterstellen kann. Eine haarsträubende Konstruktion, die das gleiche Ministerium dann 1996 für falsch befand. Neue Dokumente aus einem ehemaligen Stasi-Archiv aus der DDR führten dann zu einem neuen Mordverfahren.

Gross war nach dem Krieg jahrzehntelang Mitglied der SPÖ und hatte gute Kontakte in das Justizsystem. War das mit ein Grund dafür, dass es zu keiner Anklage kam?

Neugebauer: Von der Seilschaft der Ärzte, die in Salzburg den Kongress abhielten, hatten alle gute Kontakte zur SPÖ und dem BSA (Anm. der Red.: Bund Sozialistischer Akademiker). Diese Leute haben ihm lange die Stange gehalten.

Vogt: Man muss wissen, dass der einst hier in der Justizanstalt Mittersteig tätige Dr. Sluga im Bund der Täter war. Er war zwar kein NS-Täter, aber er hat die Täter unterstützt. Sluga ist eines Tages in der JA Stein bei Friedrich Zawrel erschienen und hat ihm mit den Worten: „Wenn Du nicht sofort aufhörst etwas gegen Gross zu unternehmen, dann werde ich dafür sorgen, dass du von Stein wegkommst und in einer Psychiatrie landest. Dort ist es nicht so lustig wie hier“, bedroht.

Der Psychiater Sluga, der immer ein fortschrittliches Image hatte, bedrohte also Zawrel. Ich fiel aus allen Wolken, als ich davon hörte. Sluga war damals Berater des Justizministers und als solcher hat er auch den Maßnahmenvollzug mitgestaltet. Man sieht, dass es damals sehr festgefügt war, dass die beiden Regierungsparteien wild entschlossen waren, den ganzen Fall Gross unter den Tisch zu kehren.

Mein größter Erfolg war aber, dass ich Friedrich Zawrel diesem Justizsystem entreißen konnte. Er wurde 1945 eingesperrt, man sollte glauben, die NS-Zeit war vorbei, aber er hat in Wirklichkeit bis 1981 in den Fängen der NS-Psychiatrie gelebt. Das war zu dieser Zeit ein glatter Amtsmissbrauch von Gross und es ist während dieser Zeit auch nichts geschehen. Kein einziger namhafter Psychiater hat sich gemeldet oder darauf hingewiesen.

Neugebauer: Auch in der Solidaritätsbewegung für Vogt und gegen Gross waren nur junge Ärzte und Aktivisten, aber kein einziger Universitätsprofessor.

Es gibt also im Fall Gross die Verstrickungen von Heinz Pfolz, der noch aktiv im Justizdienst ist, und fragwürdige Gutachten, auf deren Basis Menschen jahrelang festgehalten werden, erstellt. Außerdem sollen ja die Akten von Gross dann beim Heinz Pfolz aufgetaucht sein. Die zweite Verstrickung gibt es mit Reinhard Haller, der Gross durch sein „Demenz-Gutachten“ im Prozess geholfen hat. Was können Sie über diese beiden aktiven Gerichtspsychiater sagen?

Vogt: Zu Pfolz kann ich nur sagen, dass er sich selbst als Schüler von Gross bezeichnet hat. Gross hat sich ja auch nicht irgendwen ausgesucht, um ihm bei dem Kongress in Salzburg zu vertreten. Pfolz ist auch sein Nachfolger am Steinhof geworden. Diese Seilschaft hat sich für Pfolz gelohnt.

Neugebauer: Wir haben alle 35 wissenschaftlichen Arbeiten, die Gross nach 1945 geschrieben hat, erfasst und analysiert. Diese Arbeiten beruhen alle auf den, aus der Nazi-Zeit stammenden, Gehirnen seiner Opfer. Gross bekam auch ein eigenes Institut bei der SPÖ-nahen Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft.

Unter den Mitautoren, die Gross ausgesucht hat, waren namhafte Mediziner, wie zum Beispiel, der damaligen Rektor der Universität Wien, Professor Seitelberger, Universitätsprofessor Andreas Rett, der Psychiatriepapst Hans Hoff, selbst ein Rückkehrer aus der Emigration.

Vogt: Hoff hat dann aber immerhin verhindert, dass Gross habilitiert wurde. Gross wollte immer Professor werden und war auch gut unterwegs, die Professur zu bekommen. Hoff hat aber von Professor Spiel erfahren, worauf die Arbeiten von Gross basieren. Damit war Schluss mit der Professur von Gross.

Neugebauer: Ich habe ein Buch über die Verstrickungen des BSA mit den Tätern aus der NS-Zeit verfasst. Einer der wichtigsten Befürworter des Gross war der SPÖ-Gemeinderat und Anatomieprofessor Alfred Gisel. Den kannte ich gut und er war mir sympathisch. Ich interviewte ihn und ich fragte, wer Gross in die SPÖ geholt und damit auch den „Persilschein“ für Gross ausgestellt hat. Er erzählte mir, dass er ihn während der Kriegsgefangenschaft in Russland kennen gelernt hat, aber nichts von seiner Vergangenheit am Spiegelgrund wusste.

Ich fand ein Protokoll des BSA, das Gisel geschrieben hat und darin stand auch, dass er Gross eingeführt hat. Ich habe ihm darauf noch einmal geschrieben und gefragt, ob er nicht im Lichte dieses Dokuments seine Aussage revidieren möchte?

Er lehnte das ab und sprach dann nicht mehr mit mir. Ich wurde aber für mein Buch von einzelnen SPÖ-Funktionären heftig kritisiert. Es wurde noch 2005 als „Nestbeschmutzung“ kritisiert.

Vogt: Ich würde sogar behaupten, das Ende der politischen Karriere von Caspar Einem (dem damaligen BSA-Vorsitzenden) hat sicher mit diesem Buch zu tun.

Neugebauer: Caspar Einem ist aber standhaft gewesen und hat dem Druck aus der eigenen Partei nicht nachgegeben. Es mag sein, dass seine Resignation daher stammt.

Vogt: Er war einer, von dem man angenommen hat, dass er der nächste SPÖ-Vorsitzende wird. Es gab aber eine große Mehrheit in der SPÖ, die dagegen war, dass dieses Buch erscheinen darf. Das Buch ist aber erschienen und jeder konnte die Geschichten nachlesen.

Auch die Kommunistische Partei Österreichs hat sich um die Dienste von Gross, Harrer und Sluga bemüht. Damals organisierte die KPÖ eine Kommission mit diesen Herrschaften und sie besuchten die Psychiatrien in der damaligen Sowjetunion. In dem Bericht dieser Kommission wird die Psychiatrie gut dargestellt und bescheinigt, dass alles in Ordnung sei.

Gross hat immer wieder behauptet, dass er nie verurteilt wurde. Stimmt das?

Neugebauer: Das ist etwas kompliziert. Gross wurde wegen einiger weniger Fälle 1950 zu zwei Jahren Haft verurteilt. Dieses Urteil wurde vom OGH wegen Formalfehlern aufgehoben und hätte neu verhandelt werden müssen. In der Zwischenzeit hat der Staatsanwalt eine Anweisung bekommen, von der Anklage zurückzutreten. Damit war das Verfahren zu Ende.

Vogt: Es wurde damals auch damit begründet, dass Gross die zwei Jahre schon abgesessen hat.

Gross bekam zwei Jahre Haft für mehrere Tötungsdelikte?

Neugebauer: Es bestand damals schon die Konstruktion, dass es sich nur um Totschlag handeln würde. Während Illing, der Leiter vom Spiegelgrund, noch mit dem österreichischen Strafgesetz zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, hat man das gleiche Delikt in den nachfolgenden Prozessen gegen Gross und andere nur mehr als Todschlag qualifiziert. Damit ist der Strafsatz ein viel geringerer und die Verjährung eine viel kürzere.

Vogt: Illing ist nicht nur wegen der Tötung der Kinder verurteilt worden, sondern auch wegen des Quälens. Was Herr Zawrel berichtet hat, waren ja Qualen und die Kinder wurden bis zum Tode schmerzhaften Untersuchungen unterzogen. Das konnte beim Prozess von Gross nicht mehr behandelt werden, denn das Quälen der Kinder ist längst verjährt.

Selbst wenn es in weiterer Folge einen Prozess gegeben hätte, wäre Gross ja dank seiner Verbindungen optimal geschützt gewesen. Mit der Demenzbescheinigung von Haller war Gross ja praktisch nicht mehr verhandlungsfähig?

Vogt: Ich habe selbst gegen dieses Gutachten angekämpft. Die Hallersche Demenztheorie geriet ins Wanken, als ich bei Haller nachfragte, ob er sich nicht vorstellen kann, dass ein Experte wie Gross, um sich selbst zu schützen, den Dementen spielt. Haller meinte: „Das ist unmöglich. Ein Mann von der Geistesgröße eines Heinrich Gross, ist nicht im Stande so etwas zu spielen, denn das wäre gegen seine Ehre.“ Wobei man nachweisen konnte, dass Gross bei den Prozessen oft gelogen hat.

Neugebauer: Die Sauerei war, dass es solange verschlampt wurde. Ich habe zwei Mordanzeigen, 1993 und 1995, gegen Gross erstattet und beide Male ist nichts passiert. Erst als 1997 ausländische Fernsehstationen überall über den Fall Gross berichteten und Interviews geführt haben, hat der damalige Justizminister Michalek die Weisung an die Staatsanwaltschaft gegeben, das Verfahren einzuleiten. 2000 war dann die erste und einzige Verhandlung.

Vogt: Vorher waren die Voruntersuchungen und Gross wurde einvernommen. Dabei wurde auch noch keine Demenz bemerkt, weil er umfangreich Auskunft gab. Gross war aber der Obergutachter des Straflandesgerichts in Wien. Dort, in seiner Heimat, wo ihn jeder kennt, sollte der Prozess stattfinden. Es war wie eine Komödie. Er wurde in abgerissenem Gewand auf eine Bank gesetzt und die Damen und Herren des Gerichts kamen vorbei und begrüßten ihn herzlich.

Es war ein Witz die Verhandlung genau in dem Gericht abzuhalten, wo Gross alle in der Hand hatte und für welches er über 12.000 Gutachten geschrieben hat. Als der Richter fragte: „Herr Gross, haben sie hören können, was der Gutachter gesagt hat?“ antwortete Gross: „Ja, gehört habe ich alles. Aber verstanden habe ich nichts.“ Das führte dann zu einer Unterbrechung und der Richter meinte, dass auf Grund des schlüssigen Gutachtens von Haller nachvollziehbar ist, dass Gross nicht verhandlungsfähig sei.

Der Fall Gross wurde mittlerweile gut aufgearbeitet. Hat sich in all den Jahren jemand bei Ihnen für das Unrecht, dass Sie durchmachen mussten, entschuldigt, Herr Zawrel?

Zawrel: Entschuldigt hat sich keiner. Gross hat 1950, als das Urteil aufgehoben wurde, einen Antrag auf Haftentschädigung gestellt. Das wurde vom OLG mit der Begründung abgelehnt, dass es noch so viele offene Fälle gäbe und Gross daher nichts bekommt.

Neugebauer: Mir fällt aus der Politik niemand ein, der sich bei Friedrich Zawrel entschuldigt hätte.

Vogt: Ich finde, es hat schon einen großen Wechsel gegeben. Zum Beispiel hat die Stadträtin Elisabeth Pittermann durchgesetzt, dass die Kinder begraben wurden. Bei dieser Gelegenheit wurde auch das Schicksal des Herrn Zawrel erzählt. Inzwischen hat ihm die Stadt Wien und die Republik Österreich das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik umgehängt.

Der Schönheitsfehler dabei war, dass die damalige Justizministerin, Beatrix Karl, das Ehrenzeichen überreichen sollte, diese aber meinte: „Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen der Justiz und dem Herrn Zawrel.“ Daher hat die Wissenschaftsministerin die Überreichung vorgenommen.

Herr Zawrel, nach all dem Unrecht, das sie erlebt haben, bedeutet Ihnen dieses Ehrenzeichen etwas, oder ist es Ihnen egal?

Zawrel: Für mich war es mehr oder weniger eine Genugtuung. Denn man hat es dem Gross weggenommen und ich bekam es.

Vogt: Es geschieht so selten, dass jemand einen Orden bekommt, von dem man aus tiefster Überzeugung weiß, dass er den verdient hat. Wenn es einen gibt, der den Orden verdient hat, dann Friedrich Zawrel. Für das, was er aushalten musste und was er überstanden hat. Da er, trotz mangelnder Schulbildung, ein besonders guter Pädagoge ist, würde ich ihm auch noch ein Ehrendoktorat geben.

Er beeindruckt noch immer viele Schulklassen und hunderte von Kindern durch seine Erzählungen massiv. Er hat hohe Stapel an Ordnern mit Dankesbriefen von Kindern. Es gibt sicher keinen Pädagogen, der mehr Briefe von Schülern bekommen hat. Voriges Jahr wurde er, gemeinsam mit mir, das erste Mal zu einem Psychiaterkongress eingeladen, bei dem die NS-Psychiatrie ein Thema war.

2013 – lange hat es gedauert. Ich finde, eine wirkliche Wiedergutmachung ist ohnehin nicht möglich, denn die Lebensjahre sind weg.

Herr Zawrel, was möchten Sie unseren Lesern noch mitteilen?

Zawrel: Gross bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine.

Ein schöner Schlussssatz! Danke, dass Sie alle die Zeit gefunden haben, mit uns dieses sehr wichtige Thema zu diskutieren. Wir wünschen Ihnen alles Gute.

(Die Gesprächsrunde führten Markus Drechsler und Ing. Michael Bencza für Blickpunkte 3+4/2014.) / Friedrich Zawrel starb am 20. Februar 2015. / Siehe auch Interview auf Gedenkstätte Steinhof.

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6 Kommentare

  • Danke, danke, danke!

    Man kann es nicht oft genug sagen:
    Widerstand war möglich UND auch erfolgreich!

    Hier wäre Detailforschung SEHR interessant!

  • @Gerhard Lichtenauer! Vollinhaltliche Zustimmung!

  • NIE VERGESSEN!

    Es ist unmöglich, nur annähernd das Unrecht nachempfinden zu können, welches, so wie Friedrich Zawrel, auch tausenden Anderen widerfahren ist.

    Hatte man geglaubt, dass die NS-Zeit und Greueltaten längst vorbei wären, musste Friedrich Zawrel noch bis 1981 unter den Fängen der NS-Psychiatrie leiden.

    UNFASSBAR, was er aushalten musste und was er überstanden hat. Auch wenn man es nicht Ungeschehen machen kann, waren es für mich unheimlich berührende Momente, dass jemand große Verdienst- und Ehrenzeichen verliehen bekam, von dem man aus tiefster Überzeugung wusste, dass er diese verdient hat, nämlich Friedrich Zawrel; hat er doch unermüdlich Zeugnis über diese Greuel der Nazizeit abgelegt und damit einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung der nachkommenden Generationen geleistet.

    Eine wirkliche Wiedergutmachung wäre ohnedies unmöglich gewesen!

  • Ruhen Sie in Frieden! Wie gut, dass eine dermaßen unintelligent anmutende Person, denn unintelligent ist sie nicht, nicht mehr das Amt des Justizministers bekleidet. Also war das, was man uns als sogenannten Ausrutscher im Rahmen ihres ZIB-Interviews verkaufen wollte, leider doch der Ausdruck von Hochmut und Aroganz.

  • Aufschlussreiches über die Republik der Verantwortungslosigkeit, wie sie leibt und lebt!
    Btw., diese Schandflecken sind u.a. noch gar nicht ausgeleuchtet:
    1. Vogt: „Die „wilde Euthanasie“ ist bis WEIT NACH 1945 weitergegangen.“
    2. Vogt: „… Mein größter Erfolg war aber, dass ich Friedrich Zawrel diesem Justizsystem entreißen konnte. Er wurde 1945 eingesperrt, MAN SOLLTE GLAUBEN, DIE NS-Zeit WAR VORBEI, aber er hat in Wirklichkeit bis 1981 in den Fängen der NS-Psychiatrie gelebt.“
    3. Justizministerin Beatrix Karl meinte: „Ich sehe KEINEN ZUSAMMENHANG zwischen der Justiz und dem Herrn Zawrel.“

    • Tiefland Österleich.