Früher wurden Behinderte umgebracht, heute werden sie nicht mehr geboren!

Oft braucht es einen Anlass, wie der Skandal um die abgebrochene Schulführung in Auschwitz, um Dinge zu tun, die man schon längst vorhatte. Dieser Kommentar ist in der Presse vom 22. Juni 2009 erschienen.

Gedanktafel eines Euthanasieopfers
Wassermann, Franz

Bereits 2005 wurde im jetzigen Otto Wagner Spital die Ausstellung „Der Krieg gegen die Minderwertigen“ eröffnet, die sich kritisch mit der Vergangenheit des Spitals am Spiegelgrund auseinander setzt. Mein Plan stand fest, ich wollte mit einer Schulklasse die Ausstellung besuchen, um die heutige Auseinandersetzung von Jugendlichen mit den NS-Geschehnissen auf der Kinderpsychiatrie wahrzunehmen.

Doch leichter gesagt als getan. Ein erster Anruf im Spital schockiert: „Mit dem Elektrorollstuhl kommen sie nicht über die Stufen“, meinte die sachliche Damenstimme. Das konnte doch wohl nicht sein? Tatsächlich bekam ich eine Stunde später einen Rückruf, man hatte den barrierefreien Lift entdeckt. Ein schaler Nachgeschmack blieb: Hat demnach noch kein Rollstuhlfahrer die Ausstellung besucht?

„Der Anfang des 20. Jahrhunderts war geprägt von der wissenschaftlichen Ideologie, dass sich, aufbauend auf die Lehren von Darwin, der menschliche Gencode zunehmend verschlechtert“, erklärte der Historiker Michael Schedl den 23 SchülerInnen der Caritas Fachschule für Sozialberufe und fragte die 18jährigen nach dem Warum. „Globalisierung, Vermischung der Rassen und Verheizung der Starken an der Front. Übrig bleiben die Schwachen“, kommen die Antworten der zukünftigen BehindertenpädagogInnen.

Mit Kriegsbeginn begann daher gleichzeitig die Auslese der „Minderwertigen“, die systematisch einem „Gnadentod“ zugeführt wurden. Das Spital mutierte nach dem Anschluss Österreichs zum Wiener Zentrum der nationalsozialistischen Tötungsmedizin, in dem rund 800 kranke oder behinderte Kinder und Jugendliche umgebracht worden sind. Bei diesen Ausführungen läuft mir ein kalter Schauer über meinen wortwörtlichen Buckel. Klein, schief gewachsen, mit gelähmten Beinen wäre ich zur damaligen Zeit wohl auch als minderwertig im Spital „behandelt“ worden.

Mein Leben entschied sich vor drei Jahren ebenfalls im Otto Wagner Spital. Die Lähmung war hochgestiegen, beeinträchtigte die Lungenmuskulatur und ich war dem Erstickungstod sehr nahe. Doch ich wollte weiter leben, was man mir durch eine künstliche Beatmung ermöglichte. Ich lernte den Alltag mit dem Beatmungsgerät kennen und führe seither ein integriertes Leben mit hoher Qualität. Vielleicht ist dies das sprichwörtliche Glück des Spätgeborenen.

Michael Schedl erzählte von einem Zeitzeugen im Rollstuhl, der von seinem Kinderarzt damals nicht gemeldet worden war. Es gab auch damals Zivilcourage.

Der Spiegelgrund wurde im Rahmen des groß angelegten geheimen Euthanasieprogramms des NS-Regimes T4 (Name kommt von der Berliner Entscheidungsbehörde über Leben und Tod: Tiergartenstraße 4) zur Auslesestation für „minderwertige“ behinderte Kinder. Die Berliner Behörde entschied zumeist aufgrund der Gutachter des Spiegelgrundes, wie Professor Heinrich Gross. Kam von Berlin das OK, wurden die behinderten Kinder durch Nahrungsentzug körperlich geschwächt und bei den dadurch zunehmenden Infektionskrankheiten nicht behandelt. Zudem wurden viele Kinder nach Schloss Hartheim deportiert. Zwischen 1940 und 1944 wurden in Schloss Hartheim im Rahmen des T4-Programmes rund 30.000 Menschen in der Gaskammer ermordet und verbrannt.

2007 besuchte ich als meine erste Reise mit Beatmungsgerät Schloss Hartheim. Das Todesschloss mitten in der idyllischen oberösterreichischen Landschaft wirkte auf mich sehr bedrückend. Behinderte Menschen wurden aus dem ganzen Reich herantransportiert. Es gab jedoch kein Pflegepersonal. Der Weg führte über eine große Umkleidekabine direkt in die Gaskammer. Barrierefrei rollte ich dorthinein und war froh, wieder hinaus rollen zu können.

Die Geschichte des Zeitzeugen Friedrich Zawrel kennen die SchülerInnen aufgrund einer persönlichen Begegnung mit ihm in der Schule. Er war gleich zweimal Opfer des NS-Doktors Heinrich Gross: zuerst als Kind am Spiegelgrund, 1975 stand er Prof. Gross wieder gegenüber. Als Zawrel durchblicken ließ, dass er ihn wieder erkannt hatte, brachte ihn Gross durch ein Gutachten erneut in eine geschlossene Anstalt. Dabei berief sich Gross ungeniert auf die NS-Diagnose von einst.

Die Rehabilitierung von Gross und seine Karriere in der zweiten Republik als geachteter medizinischer Gerichtsgutachter zählen zur jüngsten Geschichte, die am Otto Wagner Spital aufgearbeitet wird. 2002 durchforstete eine Kommission das Spital, sicherte NS-Präparate von Kindern, 2003 wurde Gross das Ehrenkreuz für Wissenschaft in einer Ministerratssitzung aberkannt. 2005 starb Gross ohne für seine Straftaten jemals verurteilt worden zu sein.

„Was hat man davon, sich mit der Geschichte auseinander zusetzten?“, fragte am Ende der Führung der Lehrer Josef Fraunbaum. „Naja, früher sind die Behinderten umgebracht worden, heute kommen sie gar nicht mehr zur Welt“, meinte ein Schüler.

Fraunbaum nickte: „Behinderte Embryos dürfen über die Fristenlösung hinaus, bis zur Geburt abgetrieben werden.“ Schedl erläutert die Details: „Der Embryo wird durch einen Herzstich bereits im Mutterleib getötet, denn ab der 20.Schwangerschaftswoche ist er überlebensfähig. Das wird sogar eugenische Indikation genannt.“

Den SchülerInnen ist das nicht fremd. So ergänzt eine Schülerin: „Es kommen kaum mehr Kinder mit Down-Syndrom zur Welt, hier geht eine Bereicherung verloren.“ Fraunbaum: „Es müssen zuerst die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit behinderte Kinder zur Welt kommen können.“ Hier sehe ich mich gefordert zu widersprechen: „Stimmt, es braucht bessere Rahmenbedingungen für behinderte Menschen. Aber es braucht zunächst behinderte Menschen, damit sich die Welt in Richtung Gleichstellung und Gleichwertigkeit verändert“.

Ausfechten statt Andacht

Der vor kurzem stattgefundene Eklat bei einer Klassenfahrt nach Auschwitz gibt zu denken. Wie umgehen mit provokativen Wortmeldungen von Jugendlichen? Wie soll die Auseinandersetzung innerhalb und außerhalb der Schule mit der NS-Zeit aussehen?
Die Provokationen der 16jährigen SchülerInnen seien sogar so weit gegangen, dass bei einem gemeinsamen Besuch einer Gaskammer mit Holocaust-Opfern und deren Nachkommen judenverhöhnende Witze gemacht worden sind. Daraufhin wurde der Besuch abgebrochen und die Klasse nach Hause geschickt. Der Historiker Michael Schedl kennt den unreifen Umgang von SchülerInnen aus seiner eigenen Führungspraxis.
Er sieht im Abbruch von Ausstellungsbesuchen jedoch jedenfalls die falsche Vorgangsweise: „Man muss solche Konflikte ausfechten, denn wo sonst sollen die Jugendlichen Vorurteile abbauen. Gedenkstätten sollen nicht nur Andachtsstätten sein, sondern der Auseinandersetzung mit den Meinungen der Jugendlichen dienen“. Statt Andacht und Schock sollen bei der Auseinandersetzung Diskussion und Wissensvermittlung Platz greifen. Daher begrüßt er, dass bei der Ausstellung am Spiegelgrund die Fotos der ermordeten Kinder herausgenommen worden sind.
Die SchülerInnen der Caritas-Schule bereiten sich auf ihren Beruf als BehindertenpädagogInnen vor. Dementsprechend haben sie sich mit der Thematik gut auseinandergesetzt. Eine Schülerin meinte aber: „Ich hab auch nichts von Behinderung gewusst, bevor ich mit der Caritas-Schule angefangen hab.“
Auf die Frage, wie denn die Auseinandersetzung in der Pflichtschule ausgesehen hat, kommen unterschiedliche Antworten von „gar nicht“ bis „wir haben ein Projekt zum Tagebuch der Anne Frank gemacht“. Die SchülerInnen fordern von den PädagogInnen mehr Wissen durch Weiterbildung und die Bereitschaft zur engagierten Aufarbeitung der Geschichte.
Laut Schedl wurde die Geschichte der Psychiatrie nach 1945 nie aufgearbeitet. Dies zeigt auch das Ergebnis der gemeinderätlichen Untersuchungskommission: Im Otto Wagner Spital gibt es massive bauliche und personelle Mängel. So wurden 20% der Kinder nicht in der Kinderpsychiatrie, sondern auf Erwachsenenstationen untergebracht.
Wochen- und sogar monatelang warteten die Patienten nur auf die Gutachten. Es werden noch immer Netzbetten eingesetzt, obwohl diese die Menschenrechte verletzten. PatientInnen sollen stundenlang sogar derart fixiert in ihren eigenen Exkrementen gelegen haben.
Die Klasse der Caritas-Schule kritisierte in der Diskussion den heutigen „schlampigen Umgang mit der Geschichte, wie er sogar im Parlament praktiziert wird“. Sie laden daher den 3. Nationalratspräsidenten, Martin Graf, ein, doch mit ihnen gemeinsam die Ausstellung am Spiegelgrund zu besuchen.

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