Für eine humane Kultur des Sterbens

Grünewald: Bei unvorstellbarem Leid muß Diskussion über Beihilfe zum Freitod erlaubt sein

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Eine humane Kultur des Sterbens sollte aus Sicht der Grünen einen zentralen Stellenwert in unserer Gesellschaft einnehmen. Einige Entwicklungen in der Politik insbesondere in der Gesundheitspolitik erfüllen uns daher mit großer Sorge.

Immer mehr beherrschen rein ökonomische und budgetäre Motive die Diskussion und humanistisch-soziale Überlegungen treten dabei zunehmend in den Hintergrund. Es kann nicht sein, daß Menschen, die sich aufgrund ihres Einkommens und ihrer Bildung schon jetzt ein besseres und gesünderes Leben leisten können auch wieder diejenigen sind, die sich mehrheitlich ein humaneres Sterben leisten können. Die Einführung von weiteren Selbstbehalten und der steigende prozentuale Anteil privater Investitionen bei gleichzeitig sinkenden öffentlichen Ausgaben im Gesundheitssystem verstärkt die Gefahr einer „Zwei-Klassen-Medizin“.

Die Entwicklung von Denkrichtungen, die das Leben alter und unheilbar kranker Menschen aus vorwiegend ökonomischen Gesichtspunkten betrachten und den Einsatz gesundheitspolitischer Maßnahmen unter diesem Aspekt bewerten, sind gefährlich, dürfen aber gerade deswegen in der Diskussion nicht tabuisiert werden. Wer nicht mehr selbständig für sich und seinen Unterhalt sorgen kann und vermehrt auf Hilfe von außen angewiesen ist, bedarf der besonderen Solidarität unserer Gesellschaft. Gegenläufige Entwicklungen müssen von allen gesellschaftlichen Kräften gemeinsam so bekämpft werden, daß Krankheit, Leid, Alter und Behinderung niemals zu Ausgrenzung und Stigmatisierung führen dürfen.

Das Thema und das Problem des „humanen Sterbens“ muß zu einem zentralen Anliegen der Gesellschaft und der Gesundheitspolitik werden. Tabuisierung und Verdrängung haben hier viel Leid ausgelöst und sind für mangelnde Initiativen verantwortlich. Der Hospizgedanke muß intensiver gefördert werden, kann aber selbst nur Teil einer viel umfassenderen Problemlösung sein. Daher müssen breitere Angebote, die den spezifischen Situationen und Bedürfnissen stärker Rechnung tragen, geschaffen werden. Dies betrifft die verpflichtende Vorsorge für „Räume des Abschiednehmens“ in allen stationären Versorgungseinrichtungen, ambulante und tagesklinische Einrichtungen sowie begleitende Familienhilfe im privaten Bereich. Eine weitere Ghettoisierung ist dabei tunlichst zu vermeiden. Die Situation Sterbender in den Krankenhäusern muß auch über Gesetzesinitiativen deutlich verbessert werden. Unabhängig von den Strukturen und Organisationsformen der jeweiligen Einrichtungen ist der Faktor Zeit eine maßgebliche Qualität für menschliche Zuwendung und für die Betreuung Todkranker. Trotzdem kann eine Verbesserung der Situation Sterbender und ihrer Angehörigen nicht zum Nulltarif erreicht werden und die Forderung nach zusätzlichen Budgets ist legitim und berechtigt, wenn wir dieses Problem ernst nehmen wollen.

Wünsche nach aktiver Sterbehilfe werden sich unter diesen verbesserten Voraussetzungen auf einzelne, tragische Ausnahmefälle reduzieren. Die Diskussion um Sterbebegleitung und Sterbehilfe führt jedoch immer wieder zu Begriffsverwirrungen und Mißverständnissen, da aktive und passive Sterbehilfe nicht in der nötigen Klarheit getrennt werden. Vielfach – aber oft auch völlig unberechtigt – werden daher Erinnerungen an eine unglückselige Vergangenheit wach. Negative Beispielwirkungen und verhängnisvolle Dammbrüche werden befürchtet. Das muß ernst genommen werden! Und daß es dazu niemals kommen darf, ist unter Grünen unbestrittener Konsens. Mit aller gebotenen Klarheit muss aber festgehalten werden, daß es sich in dieser Diskussion unter Grünen ausschließlich um Todkranke – also Sterbende – gehandelt hat, bei denen alle Versuche von Behandlung und Hilfestellung versagten. Niemals ist es um Behinderte und alte Menschen gegangen, zumal sich niemand dazu versteigen kann Behinderung und Alter als tödliche Erkrankung zu definieren.

Trotz aller Bemühungen wird es vereinzelt immer wieder Situationen existenziellen Leidens geben, die alle unsere Vorstellungskraft übersteigen. Hier wegzusehen und das zu leugnen ist keine ethisch vertretbare Lösung. Den Wunsch dieser Menschen nach einem selbstbestimmten Abschied in Würde sollten wir ernst nehmen, wenn alle anderen Mittel der Hilfe ausgeschöpft wurden.

Wenn menschliches Leid unvorstellbar groß wird, muß es erlaubt sein, darüber zu diskutieren, ob Beihilfe zum Freitod auf autonomen und freien Wunsch des Patienten wirklich ausschließlich über das Strafrecht geahndet wird. Menschen entgegen ihrem ernsthaften und freien Willen sich selbst zu überlassen und gleichsam zum Leben und Leiden zu verurteilen und zu verdammen, ist in allen Schattierungen zu hinterfragen. Die Diskussion über die Straffreistellung der Beihilfe zur Selbsttötung kann daher von den Grünen nicht von vornherein verweigert werden. Der Wunsch nach einer Entkriminalisierung dieses Deliktes unter bestimmten, sehr restriktiven Bedingungen sollte daher nicht leichtfertig diabolisiert werden, wenn dieser nach reiflichster Überlegung und in zu respektierender Autonomie todkranker PatientInnen geäußert wird. Voraussetzung für diese Meinungsbildung ist jedoch das klare Bekenntnis zur Priorität eines umfassenden Ausbaues palliativmedizinischer Einrichtungen und des Hospizwesens sowie einer positiven Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Akzeptanz von unheilbaren Leid.

Es sollte nicht so sein, daß selbst der Tod den Menschen noch gnädiger ist als jene, die als Lebende über ihn urteilen.

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