Gekürzte Mindestsicherung statt Jobangebot

VertretungsNetz kritisiert Benachteiligung junger arbeitssuchender Menschen mit Behinderungen in Wien. Mit 1. Oktober 2021 kommen zusätzliche Verschärfungen.

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Frau M. wohnt in Wien und ist 23 Jahre alt. Aufgrund einer intellektuellen Beeinträchtigung wurde ihr eine gerichtliche Erwachsenenvertreterin von VertretungsNetz zur Seite gestellt. Frau M. schloss im letzten Jahr erfolgreich eine integrative Lehre als Konditorin ab und meldete sich hochmotiviert beim AMS als arbeitssuchend. Leider wurde schon wenige Wochen später eine schwere Erkrankung diagnostiziert, gegen die Frau M. fast ein Jahr lang kämpfen musste.

Wieder genesen, meldet sich Frau M. arbeitssuchend. Aufgrund der Ansprüche, die sie während ihrer Lehre erworben hat, kann sie Arbeitslosengeld beziehen. Da die Höhe des Arbeitslosengeldes sehr niedrig und nicht existenzsichernd ist, hat sie Anspruch auf ergänzende, aufstockende Bedarfsorientierte Mindestsicherung.

Doch es wartet eine böse Überraschung: Obwohl Frau M. all den Verpflichtungen, die für arbeitssuchende Menschen gelten, nachgekommen ist, erhält sie aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung lediglich eine eingeschränkte Leistung.

Der Grund: „Eine Gesetzesänderung der Wiener Mindestsicherung aus dem Jahr 2018 sieht vor, dass unter 25-jährige Personen, die sich weder in einer Ausbildung noch in einem Beschäftigungsverhältnis oder einer Schulungsmaßnahme des AMS befinden, eine massiv niedrigere Leistung erhalten. Die Kürzung des Mindeststandards um 25 Prozent soll ein ‚Anreiz‘ für Junge sein, sich beruflich zu integrieren bzw. ihre Arbeitsmarktchancen zu verbessern. Diese Bestimmung gilt uneingeschränkt auch für Menschen mit Beeinträchtigungen“, erklärt die Erwachsenenvertreterin Martina Kargl. Im Falle von Frau M. geht es um 237 € pro Monat, auf die sie verzichten muss

Wirtschaftsdaten zeigen, dass die Corona-Krise die Arbeitslosigkeit bei 20-24-Jährigen regelrecht explodieren hat lassen. Für arbeitssuchende Menschen mit Behinderung stehen die Chancen, Arbeit zu finden, seit jeher schlechter als für Menschen ohne Beeinträchtigung.

Das zeigen auch die Daten des AMS: Menschen mit Beeinträchtigung sind häufiger erwerbslos als Menschen ohne gesundheitliche Einschränkungen im weiteren Sinn, und sie haben nachweislich auch geringere Chancen, ein Angebot des AMS zu erhalten. Ein inklusiver Arbeitsmarkt existiert in Österreich nicht.

Ab 1. Oktober 2021 wird sofort gekürzt

Frau M. wünscht sich nichts sehnlicher, als in ihrem Traumberuf zu arbeiten und hat viel Initiative gezeigt. „Solange Menschen mit Behinderungen nicht den gleichen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt und den Angeboten des AMS haben, kann man ihnen nicht vorwerfen, wenn sie keine Arbeit finden. Schon gar nicht aber darf man ihnen die Leistungen kürzen, auf die sie zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind“, beklagt Martina Kargl.

Das Land Wien selbst hat Frau M. auch kein Beschäftigungs-Angebot machen können, obwohl es sich in § 2 des Wiener Mindestsicherungsgesetzes dafür neben dem AMS selbst für zuständig erklärt hat. „Eine Pflicht festzuschreiben, ohne die Grundlagen zu schaffen, damit diese auch erfüllt werden kann – das geht nicht“, ist Martina Kargl überzeugt.

„Wir befürchten, dass diese verschärfte Regelung in Wien leider noch mehr junge Menschen mit Behinderungen treffen wird. Mit 1.10.2021 entfällt sogar die bisherige Möglichkeit, dass jungen Menschen vier sogenannte ‚Orientierungsmonate‘ gewährt werden, bevor die Leistung gekürzt wird“, kritisiert Mario Thaler, Bereichsleiter Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz für die Region Wien.

Im Fall von Frau M. gewährt die Behörde schon jetzt keine Orientierungsphase, mit dem Argument, diese hätte sie schon vor einem Jahr in Anspruch genommen – „zu einer Zeit, als sie gerade im Spital gegen ihre Erkrankung kämpfen musste“, zeigt sich Kargl empört.

„Wir hoffen, dass der Wiener Landtag – im Interesse aller betroffenen Personen – diese diskriminierende Bestimmung aufhebt“, so Bereichsleiter Thaler. Falls nicht, wird VertretungsNetz den Fall bis vor den Verfassungsgerichtshof bringen. Denn Menschen mit Behinderungen werden diskriminiert, wenn man so tut, als hätten sie am regulären wie erweiterten Arbeitsmarkt die gleichen Chancen wie Menschen ohne Behinderungen.

Frau M. konnte übrigens in der Zwischenzeit dank ihrer hohen Motivation, der engagierten Unterstützung ihrer Arbeitsassistentin und einer Förderbewilligung durch das AMS ein mehrmonatiges Arbeitstraining in einer Wiener Konditorei beginnen. Wie es danach weitergeht, weiß sie noch nicht.

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2 Kommentare

  • Hallo Ernestine,

    ich kann den Frust nachvollziehen…

    Aber zumindest sind sie aufgewacht. Also bitte tatsächlich Klagen und endlich etwas ändern.

    Wo ist da die Behindertenanwaltschaft??? Oder die Volksanwaltschaft???

    Alles Gute für Frau M.!
    Christine

  • Gut so. Das VertretungsNetz wird angeblich den Fall also bis vor den Verfassungsgerichtshof bringen. Denn Menschen mit Behinderungen werden diskriminiert. Wieso hat man allerdings bisher so getan, als hätten sie am regulären wie erweiterten Arbeitsmarkt die gleichen Chancen wie Menschen ohne Behinderungen?
    Grade aufgewacht, das Netz, das angeblich vertritt??!