Gerät das Pflegevorsorgesystem in Schieflage?

Bedeutende Gesetzesbeschlüsse haben in den letzten Monaten tiefgreifende Veränderungen im gesamten österreichischen Pflegevorsorgesystem mit sich gebracht.

Logo KOBV
KOBV

Da wäre zunächst einmal die für die Betroffenen sehr schmerzliche und vielfach kritisierte Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen für die Pflegestufen 1 und 2 (jeweils Anhebung der notwendigen „Pflegestunden“ um 10), was dazu führt, dass Pflegebedürftige gar nicht oder eben nur unter strengeren Voraussetzungen in diese Pflegestufen kommen, bedeutet de facto also Leistungskürzung.

Andererseits aber sehr begrüßenswerte Beschlüsse des Parlaments vom Juli 2011, in denen einerseits durch einen beachtlichen Verwaltungsreformschritt die Zahl der für Pflegegeldverfahren zuständigen Stellen von über 280 auf acht reduziert wurde. Ab 2012 wird nur mehr der Bund für Pflegegeldverfahren zuständig sein. Begrüßenswert deshalb, und dies hat der KOBV-Österreich in seiner Stellungnahme und gegenüber Sozialminister Rudolf Hundstorfer immer betont, weil damit einerseits die Rechtssicherheit für die Betroffenen (klarere Zuständigkeiten, routinierte Entscheidungsträger, Einbeziehung von Pflegefachkräften in Entscheidungsprozesse) und andererseits eine Verfahrensbeschleunigung erreicht wird.

Dieser „Kompetenzentzug“ der Länder war aber nur möglich, weil im neu errichteten Pflegefonds doch beträchtliche Mittel des Bundes für die Pflegedienstfinanzierung für Länder und Gemeinden zur Verfügung gestellt werden und letztere wesentlich budgetär entlastet. Dass damit auch erreicht werden konnte, dass künftig (hoffentlich) vollständige und vergleichbare Daten aus dem Pflegedienstleistungssektor vorliegen werden, ist für die mittel- und langfristige Planung des Pflegevorsorgesystems ebenfalls wichtig.

Eine Tendenz ist, wenn man die oben erwähnten Änderungen näher betrachtet, aber augenscheinlich geworden. Der Schwerpunkt des politischen Handelns im Pflegevorsorgesystem verlagert sich deutlich zum Sachleistungsprinzip und zur Entlastung derer, die dafür aufzukommen haben und diese organisieren (zu Verbilligungen der Pflegedienste für die Betroffenen wird es wohl kaum kommen).

Das Pflegegeldsystem, 1993 als Meilenstein des Sozialnetzes gefeiert, verliert zunehmend an Bedeutung, etwa durch jahrelange Nichtvalorisierung, Kürzungen (z.B. 1996) oder eben durch Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen. Das zeigt auch die Tatsache, dass die strengeren Anspruchsvoraussetzungen bei den Stufen 1 und 2 in den nächsten Jahren Einsparungen (oder geringere Zuwachsraten) bringen, die wahrscheinlich dem Betrag entsprechen, den der Bund in den nächsten Jahren den Ländern und Gemeinden für die Finanzierung der Pflegedienste zukommen lässt. Der Wille von Regierung und Gesetzgebung ist es anscheinend, das Sachleistungsprinzip gegenüber dem Geldleistungsprinzip zu bevorzugen. Eine gewisse Schieflage scheint gewollt.

Der KOBV-Österreich hat sowohl in seinen Stellungnahmen, als auch in seinem Grundsatzbeschluss am vergangenen Delegiertentag eindringlich davor gewarnt, eine derartige Schieflage zuzulassen, weil durch das Zurückdrängen des Geldleistungsprinzips die Bereitschaft und Möglichkeit der Pflege durch Angehörige erschwert wird, damit die Möglichkeit für Pflegebedürftige, „ein möglichst selbstbestimmtes und bedürfnisorientiertes Leben führen zu können“ (Zweck des Pflegegeldes, § 1 Bundespflegegeldgesetz) geschmälert wird, und damit wiederum sich die Gesamtkosten des Pflegevorsorgesystems gerade für Länder und Gemeinden (teurere Sachleistungen) überdurchschnittlich verteuern werden (z.B. stationäre/teilstationäre Pflege, teurer werdende mobile Dienste, etc).

Wenn Bundesminister Hundstorfer die Meinung vertritt, dass die Gesetzesbeschlüsse vom Juli 2011 (Verwaltungsvereinfachung, finanzielle Entlastung der Länder und Gemeinden) ein erster Schritt von Pflegesystemreformen waren, hat er grundsätzlich recht. Wenn er beabsichtigt, nun bis Ende 2012 in weiteren eingehenden Verhandlungen die nächsten Schritte folgen zu lassen, ist ihm ebenfalls beizupflichten.

Dabei wird es für den KOBV-Österreich, der sich in diese Verhandlungen einbringen wird, vor allem um die (finanzielle) Absicherung des Geldleistungssystems (Stichwort Valorisierung, Rücknahme von Kürzungen) UND auch die Weiterentwicklung des Sachleistungssystems im Hinblick auf ein selbstbestimmtes und selbstorientierten Leben der Betroffenen gehen und darum, das billigere Geldleistungssystem wieder auf gleiche Augenhöhe zum teureren Sachleistungssystem zu bringen.

Denn wenn weiter die Angehörigenpflege (80 % der Pflegeleistungen!!!) als Stiefkind behandelt wird, droht das, was 1993 als Meilenstein des österreichischen Sozialsystems bezeichnet wurde, zum unfinanzierbaren Stein um den Hals der öffentlichen Haushalte zu werden. Von Selbstbestimmtheit und Bedürfnisorientiertheit der Betroffenen wird dann wohl nur mehr in der Vergangenheitsform gesprochen werden können.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich