Gewalt gegen behinderte Menschen

Ich bin der Meinung, wir sollten jetzt aber nicht zur Tagesordnung übergehen und uns darüber freuen, daß es nur eine Fehlmeldung gewesen ist.

Bislang von österreichs relevanten Medien trotz unzähliger schlimmer Übergriffe totgeschwiegen, rückte dieses Thema durch den behaupteten Skinhead-Überfall auf Elke J., eine 17jährige Rollstuhlfahrerin aus Halle in Deutschland, sogar bis auf die Titelseiten der heimischen Printmedien vor.

Wie sich nachträglich

herausstellte, war diese Tat – wahrscheinlich aus seelischer Not – von dem Mädchen erfunden worden. Natürlich besteht jetzt die Gefahr, daß manche den voreiligen Schluß ziehen, das alles sei Wichtigmacherei und Hysterie und es gebe ja gar keine Behindertenfeindlichkeit und schon gar keine Gewalt gegen behinderte Menschen.

Ich bin der Meinung, wir sollten jetzt aber nicht zur Tagesordnung übergehen und uns darüber freuen, daß es nur eine Fehlmeldung gewesen ist. Wir sollten vielmehr dieses Ereignis zum Anlaß nehmen, um darüber zu diskutieren, wie es sich mit den Übergriffen gegen behinderte Menschen in Deutschland wirklich verhält.

Und hier zeigt sich eine Bilanz des Grauens:

Mindestens zwei behinderte Menschen haben bisher ihr Leben eingebüßt – einer nahm sich im September 1992 in einer Kleinstadt bei Hannover das Leben, weil ihm die ständigen Demütigungen und Mißhandlungen zuviel geworden waren, ein anderer, stark sehbehinderter, Mann wurde in einem Einkaufszentrum in Siegen von Skinheads zu Tode geschlagen und getreten und ein weiterer wurde erst vor kurzem auf dem Gelände eines Bahnhofs brutal ermordet.

Behinderte Menschen werden angepöbelt, angespuckt, verspottet, mit dem Rollstuhl umgestoßen, ihre Krücke aus der Hand getreten, mit Farbe besprüht, mit dem Messer bedroht, zusammengeschlagen. Immer wieder gibt es Aussagen wie „Haben Sie Dich im KZ vergessen?“

Im berüchtigten „Flensburger Urteil“

wurde im September 1992 ein Reiseveranstalter verklagt (Muskel Aktiv hatte berichtet), einer Familie zehn Prozent des Reisepreises zu erstatten, da sich diese in ihrem Urlaub von einer Gruppe behinderter Menschen belästigt fühlte.

Der Rowohlt Verlag will trotz vehementer Proteste das Buch „Should the baby live?“ von Peter Singer und Helga Kuhse herausbringen, in dem die Frage diskutiert wird, ob Kinder mit schweren Behinderungen getötet werden sollten. (Wir haben ebenfalls berichtet.)

Waren anfänglich Ausschreitungen gegen Behinderte nur aus den sogenannten neuen Bundesländern bekanntgeworden, breiteten sie sich bald über das gesamte deutsche Bundesgebiet aus.

Waren es zuerst die Ausländer,

so waren bald obdachlose, homosexuelle und behinderte Menschen Opfer der allgemein zunehmenden Gewaltbereitschaft, die sich insbesondere gegen alles richtet, was anders und vermeintlich schwächer ist.

Vergessen

werden darf dabei aber nicht die strukturelle Gewalt, mit der wir uns auch hier in Österreich tagtäglich herumschlagen müssen: der Aussonderung in Heimen und anderen Sondereinrichtungen, der Diskriminierung aller jener, die von fremder Hilfe abhängig und auf persönliche Assistenz angewiesen sind, der Einschränkung der persönlichen Freiheit, verursacht durch nicht benützbare Baulichkeiten, öffentliche Verkehrsflächen und Verkehrsmittel, der Benachteiligung in der Arbeitswelt …

Aber auch in Österreich

hört man „Dich hat der Hitler vergessen zu vergasen“ oder es wird – wie unlängst in Wien – gegen die Errichtung eines Heimes protestiert. Zu diesen ständigen Verletzungen unserer Bürgerrechte und unserer Menschenrechte ist in Deutschland nun auch die physische Gewalt gekommen.

Unter dem Eindruck

dieser Ereignisse wurde vom Europaparlament am 19.4.1993 eine Resolution zur Gewalt gegen behinderte Menschen verabschiedet, in der

  1. die Übergriffe schärfstens verurteilt und eine großzügige Entschädigung der Opfer gefordert wird,
  2. alle Versuche, das Leben Behinderter als „minderwertig“ zu diskriminieren und ihre körperliche Integrität zu verletzen verurteilt werden und
  3. die Kommission aufgefordert wird, ein Forum einzurichten, welches das Ausmaß der Übergriffe untersucht und einen jährlichen Bericht über die Situation behinderter Menschen stellt.

Eine Berichterstattung darüber sowie über die zahlreichen Übergriffe in den letzten beiden Jahren hätte ich mir in den Tageszeitungen aber auch in der Fachpresse, sowie in den Publikationen der meisten Behindertenvereine gewünscht.

Diese Ereignisse sind an unseren Medien aber spurlos vorbeigegangen. Es hat in Österreich erst des Hakenkreuzes bedurft, um über Gewalt gegen behinderte Menschen zu berichten.

Auszug aus „Leben und Weg“ 6/92

Als man die Ausländer verfolgte,
habe ich geschwiegen,
denn ich war ja keiner.

Als man die Homosexuellen verfolgte,
habe ich geschwiegen,
denn ich war ja keiner.

Als man die geistig Behinderten verfolgte,
habe ich geschwiegen,
denn ich war ja keiner.

Als man die Körperbehinderten verfolgte,
schwiegen meine Nachbarn,
denn sie waren ja keine.

Als man meine Nachbarn verfolgte, war niemand mehr da, der helfen konnte.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich