LBI Menschenrechte: Vergleichende Länderstudie zeigt, dass Gewalt an Frauen mit Behinderungen allgegenwärtig ist - Betroffene erarbeiteten Empfehlungen
Das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte (BIM) hat in einer vergleichenden Länderstudie (Deutschland, Großbritannien, Island, Österreich) untersucht, wie Frauen mit Behinderungen Gewalt erleben und welche Unterstützung sie in dieser Situation erhalten.
Betroffene Frauen mit Behinderungen und Mitarbeiterinnen von Gewaltschutzeinrichtungen haben Empfehlungen an Opferschutz- und Unterstützungseinrichtungen sowie an die Politik erarbeitet.
Die Studie zeigt, dass die Gewalterfahrungen von Frauen mit Behinderungen aufgrund ihrer spezifischen Situationen häufig komplexer und vielschichtiger sind, als bei nicht-behinderten Frauen und dass sie grundsätzlich einem höheren Risiko ausgesetzt sind, Gewalt zu erfahren. Gehörlose und blinde Frauen, Frauen mit Lernschwierigkeiten und Migrantinnen mit Behinderungen sind besonders gefährdet. Eine der insgesamt 165 befragten Frauen mit Behinderungen fasst die aktuelle Situation so zusammen: „Es gibt keinen Ort, an dem Frauen mit Behinderungen nicht Gewalt erfahren könnten.“
Manfred Nowak (Univ.-Prof. für internationales Recht und Menschenrechte an der Universität Wien, Leiter des BIM), Sabine Mandl (Projektleiterin, Frauenrechtsexpertin am BIM), Helene Jarmer (Mitglied des Projektbeirats, Abgeordnete zum Nationalrat) und Gabi Plattner (Mitglied des Projektbeirats, Leiterin des Tiroler Frauenhauses) präsentierten die aktuellen Ergebnisse heute im Rahmen einer Pressekonferenz im Café Landtmann.
Mandl: Öffentliche Sensibilisierung für Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen
Sabine Mandl, Leiterin der Studie und Frauenrechtsexpertin am BIM, dazu: „Österreich verfügt über gute rechtliche Rahmenbedingungen, trotzdem bleibt noch einiges zu tun. Denn die Ergebnisse zeigen, dass ein gewaltfreies Leben für viele Frauen mit Behinderungen nicht möglich ist. Strukturelle Gewalt und Diskriminierung erlebte und erlebt fast jede in Österreich befragte Frau mit Behinderungen. Allerdings können sich diese Frauen oft nicht wehren oder sind vom Täter oder der Täterin abhängig. Das verschlimmert die Gewaltsituation und macht eine Suche nach Unterstützung oft unmöglich.“ Das Thema Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen ist nach wie vor gesellschaftlich tabuisiert.
Mandl unterstreicht die Notwendigkeit einer verstärkten öffentlichen Diskussion: „Überall dort, wo Frauen mit Behinderungen betroffen sind, müssen sie sich aktiv einbringen und mitentscheiden können. Wichtigstes Ziel ist ein selbstbestimmtes Leben. Dafür müssen zum Beispiel Möglichkeiten der persönlichen Assistenz weiter ausgebaut werden.“
Nowak: Verbesserter Zugang zu Recht und Strafverfolgung
Für die Gewaltausübenden bleibt die Gewalt allerdings zum überwiegenden Teil ohne jede Folge. Österreich hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, arbeitet durch zahlreiche Maßnahmen an ihrer Umsetzung und verfügt über einen unabhängigen Monitoringausschuss, der die Umsetzung überwacht. Allerdings zeigen sich beim Zugang zu Unterstützung und Recht für Frauen mit Behinderungen Hürden.
Dazu Manfred Nowak, Leiter des BIM: „Die Volksanwaltschaft und die von ihr eingesetzten Kommissionen stellen bei Besuchen in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen trotz vieler positiver Bemühungen immer wieder Einschränkungen für Menschen mit Behinderungen, für Frauen mit Behinderungen im Besonderen, fest.“
„Frauen müssten besser über ihre Rechte informiert werden,“ so Nowak weiter. „Die Angst, nicht ernst genommen zu werden, hält sie davon ab, bei Behörden Unterstützung zu holen. Weitere Schulungen von RichterInnenschaft, Exekutive und Anwaltschaft sind dringend notwendig.“
Jarmer: Barrierefreier Zugang zu Information und Unterstützungsangeboten
Nur wenige Frauen mit Behinderungen können Unterstützungsangebote von zum Beispiel Frauenhäusern oder Gewaltschutzzentren nutzen. Dafür gibt es aus Sicht von Helene Jarmer, Mitglied im Forschungsbeirat des Projekts und Behindertensprecherin der Grünen, mehrere Gründe: „Es gibt eine Vielzahl an Barrieren für Frauen mit Behinderungen. Neben baulichen Barrieren ist oft der Zugang zu Informationen nicht möglich. Dazu kommt, dass die meisten Unterstützungsangebote nicht an die Lebensbedürfnisse der Frauen mit Behinderungen angepasst sind. Dies widerspricht auch dem Artikel 6 der Behindertenrechtskonvention, der die Mehrfachdiskriminierung von Frauen mit Behinderungen anspricht und Maßnahmen zur Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung fordert.“
Plattner: Adäquate finanzielle Mittel zur Umsetzung von Barrierefreiheit und Inklusion auf allen Ebenen
Im Ländervergleich liegt Österreich zusammen mit Großbritannien im Spitzenfeld in Bezug auf Barrierefreiheit: 44 % der befragten Einrichtungen in Österreich sind für RollstuhlfahrerInnen vollständig barrierefrei zugänglich. Gabi Plattner, Leiterin des Frauenhauses Tirol, zu ihren Erfahrungen dazu: „Um Barrierefreiheit auf allen Ebenen und adäquate Unterstützung bei häuslicher und institutioneller Gewalt für Frauen mit Behinderung zu ermöglichen, muss Planungssicherheit und Finanzierbarkeit für Opfer- und Unterstützungseinrichtungen weiter ausgebaut und verbessert werden. Wir wüssten, was wir ändern könnten, und da, wo es in unserer Hand liegt, tun wir dies schrittweise, und kein bisschen leise.“
Die Studie ist Ergebnis eines EU-Projekts, das in insgesamt vier Ländern umgesetzt wurde. Forschungseinrichtungen in Österreich, Deutschland, Island und Großbritannien gingen den Fragen nach, welche Formen von Gewalt Frauen mit Behinderungen erleben und welche Unterstützung für Frauen mit Behinderungen hilfreich wäre. Gemäß dem Grundsatz „Nichts über uns ohne uns!“ wurden Frauen mit Behinderungen als Interviewpartnerinnen sowie als Forscherinnen und Mitglieder in den Forschungsbeiräten aktiv einbezogen.
Download der Studienergebnisse
Die Ergebnisse der Studie sind auf der Projektwebseite zum Download verfügbar.