Es hat lange gedauert
Im sechzigsten Jahr nach Hitlers Euthanasie-Ermächtigung zur „Vernichtung von lebensunwertem Leben“ und 55 Jahre, nachdem er die Taten begangen hat, für die er sich an seinem Lebensende nun doch noch wird verantworten müssen, erhob die Staatsanwaltschaft Wien Anklage gegen den ehemaligen Gerichtsgutachter Heinrich Gross.
Dem heute 85jährigen, Jahrzehnte unter dem Schutz der SPÖ stehenden Arzt, wird darin vorgeworfen, im Sommer 1944 „maßgeblichen Anteil an der Todesbeschleunigung von neun Patienten“ etwa durch medizinisch nicht indizierte Medikamentengabe oder/und bewußter Vernachlässigung und Mangelernährung gehabt zu haben, „wobei Dr. Gross in den Krankengeschichten zumindest mitbetreuender Arzt war“.
Dr. Wolfgang Neugebauer vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) ist „froh, daß der Prozeß nun wahrscheinlich zustande kommt“, nachdem die österreichische Justiz so lange auf dem Standpunkt beharrt hatte, die Verbrechen des Dr. Gross seien als „Totschlag“ zu werten – und daher schon lange verjährt.
Neugebauer erwartet sich vom „Sichtbarmachen“ der Taten in einem Prozeß „volkspädagogische Auswirkungen“ – unter anderem durch eine erhöhte Sensibilität gegenüber den Diskriminierungen, denen behinderte Menschen ausgesetzt sind.
Daß es so lange gedauert hat, bis Anklage erhoben wurde, liegt für Neugebauer daran, daß die beiden Großparteien nach 1945 aus wahlpolitischen Erwägungen in einer allgemeinen Linie WählerInnen „von rechts“ nicht verprellen wollten.