Helene Jarmer wird heute Abgeordnete

Erstmals in Österreich wird heute mit Mag. Helene Jarmer eine gehörlose Abgeordnete im österreichischen Parlament vertreten sein. Wir führten mit ihr folgendes ausführliche Interview.

Helene Jarmer
GRÜNE

Heute, am 10. Juli 2009, findet eine Premiere im Parlament statt. Helene Jarmer wird angelobt und auch erstmals ans Rednerpult im Plenarsaal treten. Der ORF wird die Sitzung ab 9 Uhr LIVE auf ORF 2 übertragen.

Da ab nun Sitzungen in Österreichische Gebärdensprache gedolmetscht werden, hat der ORF angekündigt, diese Dolmetschung zu übertragen; allerdings ORF-üblich auf einem fast unbekannten „Satellitenableger“ und nicht auf ORF 2. Die Allgemeinheit wird davon wieder kaum etwas mitbekommen.

Interview

Für Helene Jarmer wird das heute ein großer Tag. Die neue Abgeordnete der GRÜNEN erzählt im BIZEPS-INFO Interview ausführlich, welche Ziele sie in ihrer politischen Tätigkeit verfolgen wird, in welche Ausschüsse sie nominiert ist, wofür sie vorhat zu kämpfen und wie sie mit Kränkungen umgeht. Das Interview führte Martin Ladstätter.

BIZEPS-INFO: Zurzeit ist das Medienecho um dich sehr groß, da du als erste gehörlose Abgeordnete in Österreich Neuheitswert hast. Lange Zeit wurden gehörlose Menschen aber kaum wahrgenommen und nun bekommst du so viel Aufmerksamkeit. Warum ist das deiner Meinung nach so?

Helene Jarmer: Ich nutze diese Interviews, um auf die Probleme der Gehörlosen aufmerksam zu machen und so quasi via Journalistinnen und Journalisten die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren. Und es gibt mir auch die Gelegenheit, Forderungen aus dem Behindertenbereich zu thematisieren.

Arbeiten im Parlament

BIZEPS-INFO: Wie geht es dir mit der Einarbeitungszeit im Parlament? Hast du schon Büroräumlichkeiten erhalten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon ausgesucht?

Helene Jarmer: Thematisch kenne ich mich ja in vielen Bereichen aus. Es geht eher darum, die Spielregeln im Parlament kennen zu lernen. Durch die Sommerpause im Parlament bleibt mir ausreichend Zeit und Ruhe, um mich in neue Bereiche meiner Tätigkeit einarbeiten zu können. Ich habe zudem bereits seit vergangenem Herbst an verschiedenen Sitzungen sowie internen Schulungen und Workshops des Grünen Parlamentsklubs teilgenommen.

Bei den Grünen gibt es einen Pool an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, der für mehrere Abgeordnete zuständig ist. Ich werde mir daher eine Sekretärin mit einem Kollegen teilen.

Aufgabengebiete

BIZEPS-INFO: Für welche Bereiche – außer für behinderte Menschen – wirst du als Sprecherin der Grünen zuständig sein? Für welche Ausschüsse wirst du nominiert werden?

Helene Jarmer: Mein Hauptaufgabengebiet wird der Behindertenbereich sein, daher werde ich selbstverständlich Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales sein, wo dieser Bereich angesiedelt ist.

Weiters werde ich mich sowohl dem Sozial- und Gesundheitsbereich als auch der Erwachsenenbildung widmen. Ganz wichtig ist mir natürlich der Unterrichtsausschuss, da ja für Gehörlose in diesem Bereich extrem viel zu tun ist. Wenn Themen für behinderte Menschen in anderen Ausschüssen behandelt werden, etwa in den Bereichen Verkehr und Bau, dann werde ich natürlich in die entsprechenden Ausschüsse gehen.

Der zweite Anlauf

BIZEPS-INFO: 10 Jahre nachdem du bei den Liberalen versucht hast, Abgeordnete zu werden, klappte es dieses Mal bei den Grünen. Woran ist es damals bei den Liberalen gescheitert und warum hat es dieses Mal bei den Grünen geklappt?

Helene Jarmer: Das Positive an beiden Parteien ist, dass sie sich ernsthaft für die Rechte von Minderheiten einsetzen und für eine liberale Gesellschaftspolitik eintreten.

Bei den Grünen kommt für mich dazu, dass sie die ersten waren, die mit Manfred Srb und danach Theresia Haidlmayr behinderte Menschen, in beiden Fällen Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, als Abgeordnete gewählt haben. Die Grünen setzen mit mir quasi diese Tradition fort, nur dass ich eben gehörlos bin.

Sie ist Abgeordnete – und bleibt weiterhin Präsidentin des ÖGLB

BIZEPS-INFO: In einem Artikel auf Gebärdenwelt war zu lesen, dass du in Zukunft Parteipolitik als Grüne Abgeordnete und überparteiliche Interessenspolitik für den Österreichischen Gehörlosenbund (ÖGLB) als Präsidentin machen willst. Ist das deiner Meinung nach nicht ein Interessenskonflikt?

Helene Jarmer: Der Einsatz und Kampf für Behindertenrechte ist in meinen Augen ein Kampf für Menschenrechte. Dafür habe ich im Gehörlosenbund gekämpft und dafür werde ich bei den Grünen weiterkämpfen, sogar noch mit einem erweiterten Aufgabenbereich, weil ich als Behindertensprecherin die Anliegen aller behinderten Menschen vertreten werde.

Ich sehe da also keinen Widerspruch. Trennen werde ich aber selbstverständlich die Aufgabenbereiche.

Der Leserbrief in der Kronen-Zeitung

BIZEPS-INFO: Anfang Juni 2009 gab es einen sehr beleidigenden Leserbrief über dich in der Kronen-Zeitung. Hast du dich gekränkt? Welche Reaktionen hast du erfahren?

Helene Jarmer: Leider war diese Reaktion nicht ganz überraschend, weil es bereits in der Vergangenheit ähnliche Reaktionen gab und leider wohl auch in Zukunft geben wird.

Mich persönlich hat dies jedoch nur in meiner Arbeit bestärkt und darin, dass es weiterhin das Ziel anzupeilen gilt, dass Minderheiten innerhalb einer Gesellschaft nicht ausgegrenzt werden dürfen. Und ich bin überzeugt, dass ich einen kleinen Teil dazu beitragen kann, das Bewusstsein in der Gesellschaft schrittweise zu ändern und so für mehr Toleranz zu sorgen.

Für mich war es auch schön zu erfahren, dass mich viele Menschen darin unterstützen und in meinem Streben bestärken.

Jarmer: „Mein Ziel ist …“

BIZEPS-INFO: Und zum Abschluss natürlich noch eine Zukunftsfrage: Was möchtest du in vier Jahren erreicht haben?

Helene Jarmer: Mein Ziel ist es, Barrierefreiheit für wirklich alle Menschen in allen Lebenslagen umzusetzen. Das gilt für die Bereiche Bildung, Berufsmöglichkeiten, Information und Kommunikation, aber natürlich auch für die physische Barrierefreiheit in Gebäuden und in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Ich wünsche mir, dass solche Ausgrenzungen, wie in dem Leserbrief in der Kronen-Zeitung nicht mehr vorkommen, sondern dass eine wirkliche Chancengleichheit sowohl für behinderte als auch für nichtbehinderte Menschen in der Gesellschaft möglich ist. Dafür werde ich kämpfen.

Mein Wunschtraum als Gehörlose ist, dass gehörlose Kinder die bestmögliche Ausbildung erhalten. Dafür braucht es ein Recht auf zweisprachige Ausbildung in Gebärden- und Lautsprache. Gehörlose Kinder sind genauso talentiert wie alle anderen Kinder.

BIZEPS-INFO: Wir danken für das Interview und wünschen viel Erfolg!

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