Hilfe – Theorie und Praxis der Behindertenhilfe, oder – wer ist da hilflos?

Auszüge aus dem Programm: "Amt und Würgen" der Cabaret-Gruppe 90 des Landesinvalidenamtes für Wien, Niederösterreich und Burgenland

Zwei Experten kommen von hinten durch die Zuschauerreihen zur Bühne nach vor. Die Bühne ist einstweilen verdunkelt, die beiden werden beleuchtet. Beide fachsimpeln über den letzten Stand der Technik in bezug auf Treppenhilfen für Rollis. Auf der Bühne wartet schließlich eine Rollstuhlfahrerin, die Hilfe benötigt, um die Stufen vor der Bühne zu meistern. Sobald die beiden die Bühne erreichen, wird diese beleuchtet …

DIPL-ING. FACHMANN: Also, das neue Scalamobil bietet sicheres Treppensteigen im eigenen Rollstuhl durch intelligente Technik und einfache Bedienung.

FRAU GSCHEITL: (anerkennend) Aber …

DIPL-ING. FACHMANN: Ja, und es ist bereits bei einer Treppentiefe von nur 11 cm einsetzbar, und die höhenverstellbaren Griffe bedeuten wenig Kraftaufwand für die Begleitperson. Außerdem paßt es problemlos in jeden Kofferraum …

FRAU GSCHEITL: Na, genauso wie der Treppen-Kuli. Außerdem hat der ein Eigengewicht von nur 47 kg. Er bewältigt Treppensteigungen von 36 Grad spielend mit einer Geschwindigkeit von 6,5 m/min und hat einen DC-E-Motor, der sogar wasserdicht ist.

DIPL-ING. FACHMANN: Jaja, aber noch besser ist der Selbstfahrer-Treppen-Kuli – der hat das alles auch, kann aber vom aktiven Rollstuhlfahrer ohne jegliche fremde Hilfe benützt werden! – Welch ein Fortschritt: selbsthemmendes Schneckengetriebe und elektromagnetische Bremsen – mit einem Wort: Mehr Sicherheit, unbegrenzte Mobilität und ein Optimum an Selbständigkeit …

sie erreichen die Bühne, auf der die Rollstuhlfahrerin wartet und sie bittet, ihr über die Stufen zu helfen – eine alltägliche Situation

ROLLSTUHLFAHRERIN: Könnten Sie mir bitte helfen? …

Die Experten schauen sich zuerst betreten an, dann blicken sie suchend den beschrittenen Weg zurück, als ob sich diese hilfreichen Geräte herbeibeschwören wollten …

DIPL-ING. FACHMANN: Naja, das ist jetzt aber … – Na macht nichts, ich habe ja zufällig einen Prospekt über die neuesten Treppenhilfen mit …

reicht ihr ein paar Zettel …

… lesen Sie sich das durch, gute Frau, und Sie werden ganz sicher die Hilfe finden, die Sie brauchen. Und – übrigens – Sie müssen das nicht einmal alleine finanzieren! Also, viel Glück und auf Wiedersehen!

wendet sich gemeinsam mit FRAU GSCHEITL selbstzufrieden ab, und startet Richtung Bühneneingang los. Die ROLLSTUHLFAHRERIN schaut einen Moment verdutzt, und ruft ihnen aber dann nach:

ROLLSTUHLFAHRERIN: Ja hallo, ich möchte aber jetzt diese Stufen da hinunter! Würden Sie mir also bitte helfen!

DIPL-ING. FACHMANN: Achso, jaja klar, das ist ja selbstverständlich. Natürlich helfen wir Ihnen. Da haben Sie ja ausgesprochenes Glück, daß Sie gerade auf unsere Hilfe – ich meine, wo wir doch praktisch sozusagen aus der Branche kommen, nicht war, FRAU GSCHEITL. Na gut, das haben wir gleich – halten Sie mal kurz!

drückt FRAU GSCHEITL seine Tasche in die Hand und tritt hinter den Rolli, um ungeschickt an den Griffen herumzuhantieren

Ich kenne mich ja auch bei den Rollstühlen aus – ist ja absolut kein Problem – ob Sportrollstühle oder Faltrollstühle – ich kenn sie alle – rein technisch. Eigentlich schön, einmal so ein Gerät selbst in den eigenen Händen zu halten …

rutscht bei den Griffen ab – packt dann entschlossen fest zu, und macht sich bereit, den Rollstuhl mit Schwung Richtung Treppe zu befördern – Die ROLLSTUHLFAHRERIN ahnt schon, was ihr blüht und versucht Instruktionen zu geben – sie kommt aber nicht zu wort, da DIPL-ING. FACHMANN, von FRAU GSCHEITL unterstützt, ununterbrochen quatscht …

DIPL-ING. FACHMANN: Diese neue Generation von Rollstühlen schafft ja mehr Unabhängigkeit und unbegrenzte Bewegungsfreiheit. Sicherheit, Funktion und Optik werden den höchsten Ansprüchen gerecht …

DIPL-ING. FACHMANN beginnt schwungvoll in Richtung Abgrund loszuschieben, ROLLSTUHLFAHRERIN wehrt sich verzweifelt mit Vollbremsung und Blockieren der Reifen gegen die nahende Katastrophe – er merkt zwar, daß er schwieriger vorwärts kommt, schiebt aber trotzdem unbeirrt und unverdrossen plappernd weiter …

DIPL-ING. FACHMANN: Allerdings was die Laufeigenschaften betrifft, sind Sportrollstühle schon von Vorteil – die müssen Sie einmal ausprobiert haben – da spüren Sie fast keinen Widerstand – ein Kinderspiel …

inzwischen ist der Rand der Bühne erreicht – Panik zeichnet sich im Gesicht der ROLLSTUHLFAHRERIN ab gerade als Sie sich schon zum Sturz bereit macht, kommt ihnen jemand die Stufen herauf entgegen – da der DIPL-ING. FACHMANN diese Person kennt, bleibt er aprupt stehen und grüßt …

DIPL-ING. FACHMANN: Meine Verehrung, Herr Kommerzialrat – Empfehlung an die Frau Gemahlin …

die Person grüßt und geht unbeeindruckt im Bühneneingang ab. FRAU GSCHEITL erkennt die Chance einzugreifen und drückt nun ihrerseits dem Kommerzialrat nachguckenden DIPL-ING. FACHMANN seine Tasche in die Hand. Sie steigt die Stufen hinab, packt den Rollstuhl frontal, um ihn so herunterzuziehen …

FRAU GSCHEITL: Nun lassen Sie mich auch einmal helfen! Bei diesem Modell ist es nämlich besser, wenn man den Rollstuhl von vorne nimmt, und so das an sich labile Gleichgewicht immer unter Kontrolle behält …

Die ROLLSTUHLFAHRERIN wehrt sich nun gegen das nächste Attentat der Hilflosigkeit ihrer Helfer und schubst schließlich die Frau von sich, die verdattert einige Schritte zurückweicht – die ROLLSTUHLFAHRERIN brüllt los …

ROLLSTUHLFAHRERIN: Jetzt hören Sie mir endlich einmal zu, verdammt noch mal, ich kann Ihnen das erklären! Sie nehmen die Griffe in die Hand (zum DIPL-ING. FACHMANN gewandt) und Sie hier vorne, (zu FRAU GSCHEITL) und nun heben Sie beide an.

DIPL-ING. FACHMANN: (entgeistert) Jetzt?

ROLLSTUHLFAHRERIN: Ja jetzt!

DIPL-ING. FACHMANN: (hilflos) Wo tu ich jetzt die Tasche hin?

Nach langem Zögern stellt er schließlich die Tasche ab und beide befolgen nun die Anweisungen und heben die ROLLSTUHLFAHRERIN die Stufen runter – unten angekommen bedankt sie sich knapp und fährt davon – die beiden Fachleute bleiben verdattert zurück …

DIPL-ING. FACHMANN: Wissen Sie, was das größte Problem mit diesen Behinderten ist – Sie können keine Hilfe annehmen!

FRAU GSCHEITL: Genau – außerdem sind sie auch noch undankbar.

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