Standard-Artikel und BIZEPS Reaktion

Standard, 22. September 1995:
Die Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen, die am Dienstag einen Sitzstreik im Parlament begonnen haben, haben einen Erfolg erzielt. Sogar der Kanzler ist gekommen, sich die mißliche Lage der Pflegegeldbezieher zu besehen. Der Kanzler scheint verstanden zu haben, was der Sozialminister am Vortag und Gesetzgeber vor zwei Jahren festgestellt haben: Pflegegeld ist kein Almosen für Arme, die zufällig auch noch behindert sind.
Es ist vielmehr eine solidarische Leistung, die die Nichtbehinderten für jene erbringen, die pflegebedürftig sind. Der Sozialpartner-Vorschlag, den (relativ) wohlhabenden Pflegebedürftigen das Pflegegeld zu kürzen, hätte unmittelbar die Würde der Betroffenen verletzt. So weit die berechtigten Anliegen der Demonstranten. Sie haben Betroffenheit gezeigt und Verständnis gefunden. Doch so sehr sie inhaltlich im Recht waren, so schwer wiegt das Unrecht, in das sie sich durch ihre Demonstration während einer Plenarsitzung des Nationalrates gesetzt haben. Es ist eine alte parlamentarische Tradition, daß während der Sitzungen innerhalb einer „Bannmeile“ keinerlei Demonstrationen stattfinden dürfen. Dies soll die freie Willensbildung der Abgeordneten sichern: Niemand soll physischen oder moralischen Druck auf das Parlament ausüben dürfen.
Der Hausherr des Parlaments, Nationalratspräsident Heinz Fischer, hat dem moralischen Druck allerdings nachgegeben: Er wollte nicht, daß vor laufenden Kameras Polizeigewalt gegen Demonstranten ausgeübt wird – es sieht nicht gut aus, wenn die Wache gegen Rollstuhlfahrer einschreitet. Damit ist ein gefährliches Präjudiz gesetzt: Es ist geradezu eine Einladung an andere Benachteiligte, die Bannmeilenregelung zu durchbrechen und das Hohe Haus unter Druck zu setzen.
BIZEPS-Team:
Wir sind uns durchaus des „Unrechts“ bewußt, welches wir durch unsere Aktivitäten gesetzt haben. Uns blieb jedoch keine andere Wahl, da andere Orte, die für einen derartigen Protest in Frage gekommen wären, von uns wieder verworfen wurden, weil sie aufgrund ihrer baulichen Situation (zum Teil keine barrierefreie Zugänglichkeit, keine benützbaren Toiletten, usw.) für unseren Personenkreis ungeeignet sind. Wir hoffen, daß wir in naher Zukunft nicht wieder gezwungen werden, auf diese Art für unsere Menschenrechte kämpfen zu müssen.