„Ich bin Zeuge!“

Kürzlich erschien der Jahresbericht der Volksanwaltschaft. Die darin aufgezeigten Missstände in Alten-, Pflege- und Behinderteneinrichtungen sowie Krankenhäusern und Psychiatrien sorg(t)en für breite Unmutsäußerungen. Ein Kommentar.

Sticker: Ich bin Zeuge!
Karner, Mag. Marianne

Der Jahresbericht 2014 spricht von gravierenden menschenrechtlichen Problemen.

Einige Beispiele: „fehlender respektvoller Umgang mit Heimbewohnern“, „Fließbandpflege“, „freiheitsbeschränkende Maßnahmen mittels Medikamenten“, „unkritischer Umgang mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln“, „ungenügende personelle Ressourcen vor allem im Nachtdienst“, „untragbare Lebensbedingungen“, „Fixierungen unter unwürdigen Bedingungen“ …

Die Täter / Täterinnen und Mitläufer / Mitläuferinnen

Die aufgezeigten Missstände verwundern weder einen Insider / eine Insidern noch einen informierten Bürger / eine informierte Bürgerin mit entsprechenden persönlichen Erfahrungen aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis (à la „die Oma im Pflegeheim“). Vor einiger Zeit hörte ich bei einem öffentlichen Vortrag die Aussage einer Ärztin: „Ja, wir sedieren und fixieren. Und sedieren und fixieren.“

Dieser Umstand war für sie und das anwesende Fachpublikum eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Doch sie sah diesen Umstand sehr wohl (selbst)kritisch. Es war auch eine große Hilflosigkeit und Ohnmacht spürbar. Hilflos aufgrund fehlender personeller Ressourcen. Machtlos angesichts institutioneller Grenzen, die Alternativen scheinbar unmöglich machen.

Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen: es geht mir hier nicht um diese oder jene Einrichtung. Auch nicht um eine Pauschalisierung à la „es gibt nur schlechte Einrichtungen“ oder „alle Ärzte, Pflegepersonal & Co“ sind die „Bösen“. Natürlich gibt es sehr bemühte, engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (vom Pflegehelfer / der Pflegehelferin bis zum Einrichtungsleiter / zur Einrichtungsleiterin).

Fakt ist jedoch, dass sehr viele von ihnen angesichts knapper werdenden Ressourcen irgendwann einmal „abstumpfen“ oder „ausbrennen“. Und große Institutionen bringen grundsätzlich viele Probleme mit sich.

Die Opfer

Sie kommen in jeder Diskussion viel zu kurz. Sie haben meist keine Stimme mehr, die sie erheben können. Falls schon noch, ist sie zu leise bzw. wir sind viel zu laut. Angehörige können helfen, manchmal. Viele der Stimmlosen sind jedoch allein und vereinsamt.

In einer Großeinrichtung mit strengem Rahmen und Struktur leben müssen. Lebenslang. Individualität und Privatsphäre kurz vor dem Erlöschen. Dafür Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Nicht dann Essen können, wenn man hungrig ist. Dann Essen müssen, wenn der Speisewagen kommt.

Schlimmer: Nicht dann Trinken können, wenn man durstig ist. Und: oft nicht genug trinken zu können. Nicht dann auf die Toilette gehen zu können, wenn man eigentlich muss. Fast Rund-um-die-Uhr im Bett liegen müssen. Rechts und links Seitengitter. Sich an den Fixiergurten wund scheuern. An die Decke starren. Schmerzen und Ängste haben, aber diese nicht mitteilen können …

Ein Gedanken- und Zeitsprung

Ich habe mich als Jugendliche sehr oft gefragt, ob die Menschen – verglichen mit dem Täter / Täterin- und Mitläufer / Mitläuferin-Sein während der NS-Zeit – heutzutage anders reagieren würden. Von der Erwachsenen-Welt hörte ich immer wieder: Das kann man nicht vergleichen. Solche Zustände wie damals gibt es heutzutage ja Gott-sei-Dank nicht mehr.

Eine ernüchternde und erschreckende Antwort habe ich für mich mittlerweile gefunden. Bei vielen sozialen und gesellschaftlichen Missständen, Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten sind wir alle Täter / Täterin oder zumindest Mitläufer / Mitläuferin. Wir denken an unser Wohlergehen, unseren Lebensstandard und unsere berufliche Karriere.

Im November letzten Jahres fand eine Gedenksoiree im Volkstheater mit dem Titel „Ich bin Zeuge!“ statt, die mich sehr beeindruckt hat.

Ausgangspunkt: „In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 folgt die 56-jährige Lina Loos den Brandstiftern und Plünderern und spricht – für alle vernehmbar, laut und deutlich – an jedem Tatort immer wieder die Worte: „Ich bin Zeuge!“ Auch in dieser Gedenksoiree wurde der Bogen von damals in die heutige Zeit gespannt. So waren z.B. auch ZARA (Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit) und die Bettel-Lobby mit ihrem wichtigen Appell an die Zivilgesellschaft im Rahmen dieser Veranstaltung präsent.

Worum es eigentlich geht

Die Anregungen der Volksanwaltschaft und die grundsätzlich allseits bekannten Forderungen sind selbstverständlich sehr positiv zu sehen und weiter voran zu treiben, wie z.B. „bundesweit einheitliche Pflegestandards“, „Lege-Artis-Medikamentenversorgung“, „Prinzip der Inklusion und Deinstitutionalisierung“, „keine Fehlplatzierungen junger Menschen im Altersheim“ …

Doch eigentlich geht es um eine grundsätzliche Werte-Diskussion und um eine eindeutige gesellschaftliche Fokussierung bzw. Neuorientierung. Die Antwort auf das Älter-Werden, den steigenden Pflegebedarf sowie den Anstieg der an Demenz erkrankten Personen kann nicht die Schaffung von Bettenburgen, Forcierung von Patientenverfügungen oder gar Einführung von assistiertem Suizid sein.

Das Alter ist eine gleichberechtigte Lebensphase. Menschen mit schweren chronischen Erkrankungen und/oder Behinderungen sind gleichwertige und gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger. In Frage gestellt werden dürfen nicht Alter und Krankheit, sondern der gesellschaftliche Wahn à la Wirtschaftlichkeit, Leistungssteigerung und Optimierung.

Deine Entscheidung: Mitläufer / Mitläuferin oder Zeuge / Zeugin?

Ich wünsche mir, dass wir alle ein bisschen mehr Mut und Zivilcourage aufbringen. Im beruflichen wie auch im sozialen Alltag. Die Zivilgesellschaft, jeder und jede von uns ist aufgerufen! Bei Missständen hinschauen. Ansprechen und laut aussprechen. Sich Verbündete suchen. Alternativen überlegen.

Mit dem / der Vorgesetzten das Gespräch suchen. Ihn / sie konfrontieren. Veränderungen in kleinen Schritten. Sich gemeinsam an „die da oben“ (Leitungen, Verwaltung, Verbände, politische Stellen) wenden. Allianzen bilden.

Und vor allem: Zeuge / Zeugin sein. Dazu stehen. Ja, auch mit dem Risiko, vielleicht „Unannehmlichkeiten“ zu bekommen. Und ja, auch mit dem Risiko, im schlimmsten Fall, seinen Job zu verlieren. Das ist eine harte Forderung. Aber notwendig, wenn wir etwas verändern wollen.

Wir müssen uns entscheiden: Weiterjammern. Sich in der Freizeit zudröhnen. Mit Scheuklappen arbeiten bis zum nächsten Urlaub. Oder versuchen, etwas zu verändern und sich am Ende des Tages erschöpft, aber zufrieden in den Spiegel schauen können.

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