Inhumane Logik im Namen des Gesetzes

Hermann Major über das Urteil des Obersten Gerichtshofs in einem Prozeß wegen "unterbliebener Abtreibung".

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Im „Der Standard“ erschienen:

Eltern haben demnach bei Geburt eines behinderten Kindes Anspruch auf Schadensersatz, wenn die Behinderung bei den ärztlichen Tests während der Schwangerschaft nicht erkannt wurde.

Österreich ist ein behindertenfreundliches Land. Es gibt Integrationsklassen und Behindertenanwälte, es gibt zahllose Werkstätten für Menschen mit Behinderung, es gibt schließlich auch die Aktion Licht ins Dunkel, bei der sich die Bevölkerung in ihrem Spendeneifer alljährlich selbst überbietet. Das ist die eine Seite.

Wer nur gesunde Kinder zur Welt bringen und, im Falle einer Behinderung, abtreiben will, hat nach Meinung des Obersten Gerichtshofs Anspruch auf Schadenersatz, wenn Ärzte bei den Schwangerschaftsuntersuchungen eine solche Behinderung fälschlicherweise nicht diagnostizieren und das Kind daher geboren wird. Das ist die andere Seite.

Das jüngste OGH-Urteil macht deutlich, wie inhuman und behindertenfeindlich die Gesetzeslage ist, die die Abtreibung in Österreich regelt. Nach § 97 Abs 1 Ziffer 2 ist eine Abtreibung nicht strafbar, wenn „eine ernste Gefahr besteht, daß das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein wird“.

Was nur wenige wissen: Diese Bestimmung ist nicht mit der berühmten Drei-Monate-Frist verbunden und gilt daher bis unmittelbar vor der Geburt.

Mit dieser Bestimmung hat der Gesetzgeber Mitte der 70er Jahre – also pikanterweise unter absoluter Mehrheit der SPÖ – die Logik der Marktwirtschaft auch auf den Menschen ausgedehnt. Wer die an ihn gerichteten Erwartungen nicht erfüllt, wer nicht funktioniert, wer nicht effizient ist oder gar überdurchschnittliche Mühen und Kosten verursacht, dessen Leben genießt – vorerst innerhalb seiner ersten neun Lebensmonate – keinen Rechtsschutz.

„Abchecken“ und „entsorgen“?
Man darf sich daher nicht wundern, wenn Bürger dieses Landes streng marktwirtschaftlich weiterdenken und dann auch Schadenersatz verlangen, wenn sie in ihrem kalkulierenden Handeln behindert werden. Die „Ware Mensch“ ist kein Zukunftsszenario. Sie ist die Wirklichkeit der Gegenwart.

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs wird naturgemäß nicht ohne Folgen bleiben: Der Druck auf Eltern, ihr im Mutterleib heranwachsendes Kind auf gesundheitliche Schäden „abchecken“ und gegebenenfalls „entsorgen“ zu lassen, wird sich erhöhen. Ärzte werden bei pränatalen Untersuchungen im Zweifelsfall eher eine „Mißbildung“ diagnostizieren, um nicht später mit Schadensersatzforderungen konfrontiert zu werden. Immer mehr Eltern eines Kindes mit einer Behinderung werden sich die Frage gefallen lassen müssen, warum sie denn nicht „rechtzeitig etwas getan haben“.

Und logischerweise wird auch – zumindest unbewußt – die Angst der „nicht Behinderten“ steigen, aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit einmal selbst als „behindert“ zu gelten.

Wider die Würde des Menschen
Fragt sich eigentlich niemand in unserem behindertenfreundlichen Land, was sich ein Mensch denken muß, der beispielsweise auf Grund eines Unfalls seine beiden Arme verloren hat und nun von diesem Urteil hört? Fragt sich eigentlich niemand, was der betroffene Bub denken muß, wenn seine Eltern für ihn Schadensersatz erhalten?

Eine moderne Gesellschaft sollte für das Phänomen „Behinderung“ eigentlich bessere Lösungsmodelle erarbeitet haben, als Eltern behinderter Kinder zu „entschädigen“. Schließlich hängt das Ausmaß, in dem ein Mensch unter seiner Behinderung leidet, in hohem Maß davon ab, wie seine Umwelt damit umgeht. Man ist nicht behindert, man wird behindert.

Außerdem ist es eine unumstößliche Tatsache, daß keiner von uns frei von irgendwelchen geistigen oder körperlichen „Mängeln“ ist. Würden wir nur einen Bruchteil jenes Aufwandes, mit dem wir Behinderungen auszumerzen versuchen, in einen besseren, nämlich akzeptierenderen Umgang mit dieser Gegebenheit stecken, hätte es dieses menschenunwürdigen Prozesses wohl nicht bedurft. Reparieren wir doch dieses inhumane Gesetz.

Mag. Hermann Major ist im Sozialbereich tätig und hat mehrere Jahre hindurch Menschen mit Behinderung betreut.

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