Die Erfahrung zeigt, dass Frauen, die in Betreuungsabhängigkeit aufwachsen, ein sehr großes Risiko haben, von Übergriffen betroffen zu werden. Warum dies so ist, erläutern Elisabeth Udl und Michaela Neubauer im BIZEPS-INFO Interview.

Das Thema Missbrauch beschäftigt nun schon seit Wochen die Medien. BIZEPS-INFO bat Elisabeth Udl und Michaela Neubauer (beide vom „Verein Ninlil – Gegen sexuelle Gewalt an Frauen mit Lernschwierigkeiten und Mehrfachbehinderung“) zu erläutern, warum behinderte Frauen doppelt so häufig von sexualisierter Gewalt betroffen sind.
BIZEPS-INFO: Derzeit gibt es eine intensive Debatte um Missbrauch in Behindertenheimen. Warum gerade jetzt?
Elisabeth Udl: In den letzten Monaten gab es in den Medien eine Welle an Berichten über Missbrauchsfälle in Kirchenzusammenhängen. Im Anschluss daran wurde auch Missbrauch in Institutionen wie Internaten etc. thematisiert – es wurde einer breiteren Öffentlichkeit bewusst, dass institutionelle Strukturen leider oft eine „ideale Umgebung“ für Missbrauchstäter sind.
Von dieser Erkenntnis zu dem Verdacht, dass es auch in Einrichtungen des Behindertenbereichs zu Missbrauch kommt, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.
BIZEPS-INFO: Wie verbreitet ist eurer Meinung nach Missbrauch in Behindertenheimen?
Elisabeth Udl: Es gibt eine österreichische Studie aus dem Jahr 1996, die besagt, dass Frauen mit Lernschwierigkeiten oder Mehrfachbehinderungen im Vergleich zu nichtbehinderten Frauen doppelt so häufig von sexualisierter Gewalt betroffen sind. (Siehe BIZEPS-INFO Artikel)
Auch unsere Erfahrung zeigt, dass Frauen, die in Betreuungsabhängigkeit aufwachsen und leben, ein sehr großes Risiko haben, von Übergriffen betroffen zu werden.
BIZEPS-INFO: Wie kommt es dazu?
Elisabeth Udl: Wie schon gesagt: Institutionelle Strukturen begünstigen leider oft Missbrauch. Grundsätzlich kann gesagt werden: Strukturelle Gewalt ist immer ein Nährboden für andere Formen von Gewalt. In Einrichtungen, deren Alltag von einem durch Abhängigkeit geprägten Machtungleichgewicht bestimmt ist, kann es besonders leicht zu Missbrauch und Gewalt kommen.
Gleichzeitig ist es so, dass Personen, die in Betreuungsabhängigkeit leben, oft schon von Kindheit an lernen, dass sie nicht selbst über ihre Grenzen bestimmen dürfen – andere wissen alles besser, Eltern, LehrerInnen und dann nahtlos übergehend BetreuerInnen in Werkstatt und Wohnheim legen die Regeln fest, die den Alltag der betroffenen Personen bestimmen.
Aus diesen Erfahrungen heraus ergibt sich in weiterer Folge, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten von Missbrauchstätern leichter manipuliert werden können – typische Täterstrategien sind beispielsweise Drohungen („Wenn du das irgendjemand erzählst, fliegst du hier raus“), oder auch die Vernebelung von Tatsachen („Das, was ich mit dir mache, ist ganz normal, ich habe das Recht dazu“). Leider sind Menschen mit Lernschwierigkeiten, die in Betreuungsabhängigkeit leben, solchen Täterstrategien oft besonders schutzlos ausgesetzt.
BIZEPS-INFO: Was könnte man eurer Meinung nach gegen Missbrauch und Gewalt in Einrichtungen des Behindertenbereichs unternehmen?
Elisabeth Udl: Unsere Überzeugung ist, dass ein möglichst hohes Maß an Selbstbestimmung das wichtigste Instrument zur Gewaltprävention ist. Gewalt gegen Frauen ist eine gesamtgesellschaftliche Problematik – auch die beste Präventionsarbeit wird das Vorkommen von Gewalt nicht ganz verhindern können. Trotzdem kann viel dazu getan werden, um sexualisierte Gewalt zumindest zu verringern.
Ein Grundbaustein der Prävention ist, wie schon gesagt, die Förderung von Selbstbestimmung. Wenn Frauen und Männer mit Behinderung im Alltag erfahren, dass ihre Meinung zählt, dass ihre Grenzen wahrgenommen und respektiert werden (und dass sie ein Recht darauf haben!), dann sind sie auch im Fall von möglichen Übergriffen eher in der Lage, „stopp“ zu sagen und Hilfe zu holen.
Gewaltprävention bedeutet also ganz klar nicht nur die Förderung der Fähigkeit, sich gegen sexuelle Übergriffe im engeren Sinn zu wehren – der Weg hin zu dieser Fähigkeit führt über Selbstbestimmung und Wahrung der persönlichen Grenzen in allen Bereichen des Alltagslebens!
BIZEPS-INFO: Was bietet ihr in diesem Bereich an?
Elisabeth Udl: Im Präventionsbereich bietet Ninlil „Empowerment-Seminare“ für Frauen mit Lernschwierigkeiten oder Mehrfachbehinderungen, sowie eine „Frauen-Empowerment-Gruppe“ für Frauen, die sich kontinuierlich treffen wollen.
Michael Neubauer: Die Frauen-Empowerment-Gruppe ist eine starke selbstbestimmte Frauengruppe. Sie ist für Frauen, die sich regelmäßig mit anderen Frauen treffen und austauschen wollen. Ich leite die Gruppe gemeinsam mit Angela Zwettler.
Wir treffen uns alle 14 Tage. Die Themen sind unterschiedlich.
Große Themen für die Frauen sind z.B. Fahrtendienste, die oft zu früh oder spät kommen. Oder im Wohnbereich, da gibt es oft zu viele BewohnerInnen und zu wenig BetreuerInnen.
Wir haben auch darüber gesprochen, wie wir als Frauen mit Behinderung in der Gesellschaft wahrgenommen werden. Zur Abwechslung machen wir manchmal auch Filmabende oder Disco. Wenn die Frauen wollen, wird auch gemalt wie zum Beispiel Collagen, Mandalas und vieles mehr.
Elisabeth Udl: Unsere drei Grundsätze für die Arbeit im Empowerment-Bereich sind:
- Gemeinsam mit anderen stark werden
- Selbst sagen, was man will und braucht
- Entscheidungen über das eigene Leben treffen
BIZEPS-INFO: Welche Angebote gibt es bei Ninlil noch?
Elisabeth Udl: Zusätzlich zum Empowerment-Angebot bieten wir auch Beratung für gewaltbetroffene Frauen und für Bezugspersonen von gewaltbetroffenen Frauen.
Für Bezugspersonen gibt es zusätzlich zur Einzelberatung auch die Möglichkeit von Teamberatung, wo wir Wohn- oder Werkstättenteams, die mit einem Fall von sexualisierter Gewalt konfrontiert sind, beraten, damit sie die betroffene Frau möglichst gut unterstützen können. Die Teamberatung ist übrigens ein Angebot, das sich auch an „gemischte“ Teams richtet, es werden also sowohl Frauen, als auch Männer beraten.
BIZEPS-INFO: Die Angebote von Ninlil richten sich an Frauen mit Lernschwierigkeiten oder Mehrfachbehinderungen. Gibt es solche Angebote auch für Männer?
Elisabeth Udl: Klar ist: Sowohl Frauen, als auch Männer sind von Missbrauch und Gewalt in Institutionen betroffen. Wir als Verein Ninlil richten allerdings unsere Angebote ausschließlich an Frauen, weil es gerade beim Thema „Sexualisierte Gewalt“ wichtig ist, einen sicheren Rahmen herzustellen, in dem Frauen sich geschützt fühlen können.
Die Erfahrung eines Frauenraums ist für viele Frauen mit Lernschwierigkeiten sowohl in der Beratung, als auch bei den Empowerment-Seminaren wertvoll und stärkend.
Soweit ich weiß, gibt es nach wie vor in Österreich keinen Verein, der entsprechende Angebote für Männer setzt. In Wien können wir bei Beratungsanfragen an die „Männerberatung“ weiterverweisen – Seminarangebote oder Empowerment-Programme speziell für Männer mit Lernschwierigkeiten gibt es aber meines Wissens leider noch nicht.
berger,
10.01.2011, 23:20
Warum werden behinderte Menschen überhaupt so oft von ihren Familien getrennt und können nicht vorrangig durch ihre Fsamilien gestärkt und unterstützt werden ? Gerade behinderte Menschen müssen wissen ( lernen) ,daß sie sich jederzeit auf ihre Familien verlassen können und sich ihnen jederzeit anvertrauen können !Wie oft rufen z.B.Nichtbehinderte Menschen ihre Familie an,wenn sie einen Rat und Unterstützung brauchen ? Diese Möglichkeit wird behinderten Menschen nicht von vorherein vermittelt und ermöglicht,um mehr Selbstvertrauen zu erlangen.
Tamara Grundstein,
01.08.2010, 12:05
@ „dieter stein“:
machtstrukturen lassen sich nicht in zeitungsartikeln festmachen.
was allerdings wirklich wünschenswert wäre, ist eine auseinandersetzung innerhalb der behindertenbewegung und deren einzelnen organisationen zum thema macht (-missbrauch) und strukturelle gewalt.
vermutlich bleibt das nur ein frommer wunsch, denn es ist sicherlich einfacher, auf andere zu zeigen, als das eigene tun zu hinterfragen…
Elisabeth Udl, Ninlil,
30.07.2010, 15:49
@ Gabi Pöhacker – Danke für Ihr Kompliment!
@ Dieter Stein – Ich kann Ihnen versichern, dass wir uns auch innerhalb unserer eigenen Struktur ausführlich mit dem Thema „Machtungleichgewicht“, z.B. in Hinblick auf Aufgabenteilung und Zuständigkeitsbereiche, auseinandersetzen.
Ich verstehe Ihre Kritik zu obigem Artikel (ungleiche Aufteilung der Antworten) – um unsere Gründe für diese Aufteilung und die Überlegungen dazu zu diskutieren, ist allerdings meiner Meinung nach hier nicht der richtige Ort (vor allem, weil schriftliche „Diskussionen“ zu solchen Themen immer verkürzt bleiben müssen).
Dieter Stein,
19.07.2010, 11:01
Wir lesen ein Interview zum Thema Gewalt an behinderten Menschen. Zwei Frauen werden gefragt. Davon ist eine Nichtbehindert. Die andere eine Expertin in eigener Sache. Die Expertin gibt nur eine Antwort. Die andere erledigt den Rest. Die andere (nichtbehindert) macht sich Gedanken zum Machtungleichgewicht. Leider nicht in eigener Sache. Sonst hätte die Expertin mehr Gewicht, damit es zum Machtausgleich kommt. Einfach zum Nachdenken!
Gabi Pöhacker, ED Salzburg,
16.07.2010, 09:54
Danke für den tollen Artikel. Ich bin sehr froh, dass die Wurzel der unsäglichen (und verbreiteten) Übergriffe benannt werden. Möglichkeiten haben, für sich selbst heraus zu finden, was gut tut und was nicht, respektiert werden in den eigenen Entscheidungen, das ist das Gebot der Stunde. Für alle – nicht nur für die – die sichs richten können mit ihren Silberlingen oder anders wie. Bitte so beherzt weiter arbeiten – liebe Menschen von NINLI!