Interview mit Aiha Zemp

Das Zentrum für Selbstbestimmtes Leben in Zürich hat ein sehr interessantes Gespräch von Aiha Zemp und Peter Wehrli online gestellt.

Zentrum für Selbstbestimmtes Leben Zürich
ZSL-Zürich

SL-TV von der Schweizer Selbstbestimmt Leben Bewegung nahm sich kürzlich in zwei Sendungen dem Thema Sexualität an.

Aiha Zemp von „fabs“, einer Fachstelle für Behinderung und Sexualität mit einem Büro in Basel, erzählte aus ihren Beratungserfahrungen.

Transkription der Videos

Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer

Heute lösen wir ein, was wir ihnen vor gut zwei Monaten versprochen haben: Sie sehen das Interview mit Aiha Zemp von der Fachstelle Behinderung und Sexualität.

Q: Hallo Aiha. Es freut mich sehr, dass Du uns im Zentrum besuchst. Herzlichen Dank.

A: Vielen Dank auch für die Einladung.

Q: Ist gern geschehen. Ich möchte dich als Anfang fragen: Was genau ist eigentlich die „fabs“?

A: Die „fabs“ ist eine Fachstelle für Behinderung und Sexualität mit einem Büro in Basel, aber wir arbeiten für die ganze deutsche Schweiz.

Q: Ist es eigentlich wirklich noch nötig heut zu tage über Behinderung und Sexualität zu sprechen? In der Zwischenzeit sollte doch eigentlich jeder Trottel verstanden haben, dass Behinderte genauso Sexualität benötigen, wie alle anderen Menschen auch.

A: Dem ist leider nicht so. Behinderung und Sexualität ist ein Thema, dass entweder als Luxusthema abgetan wird, oder verniedlicht wird -„Oh wie herzig, die haben einander auch ein Bisschen gern.“- oder nach wie vor tabuisiert ist.

Q: Was macht denn die fabs in diesem Bereich?

A: Wir haben eine ganz breite Palette. Wir bieten Beratungen an… Wir haben zwei Hauptstandbeine: Das Eine ist die Lust. Da arbeiten wir für die selbstbestimmte Sexualität. Das andere ist der Frust. Da arbeiten wir gegen die sexuelle Gewalt, die Menschen mit Behinderung leider doppelt so viel erfahren müssen, als Menschen ohne Behinderung. Und bei beiden Hauptstandbeinen arbeiten wir in den selben Gebieten. Wir bieten Beratungen an, anonyme und persönliche. Die Anonymen können auch im persönlichen Gespräch sein. Das kannst Du Dir so vorstellen, dass mir zum Beispiel ein psychisch behinderter Mann anruft und sagt: „Ich bin Peter. Ich möchte ein persönliches Gespräch mit Ihnen, aber ich möchte nicht, dass Sie mich mehr fragen zu meiner Person.“ Und ich finde es ganz wichtig, dass das möglich ist in der fabs, dass das anonym geschehen kann. Dann gehen wir auch zur Selbsthilfe. Ich habe letzte Woche zum Beispiel ein Referat gehalten, in einer Selbsthilfegruppe für Prostata-Patienten und es redet auch dort niemand über Sexualität. „Seid froh, dass ihr es überlebt habt.“ Aber in der Arztpraxis wird nicht über Sexualität gesprochen, wenn sie es nicht selber ansprechen. Es ist eine grosse Einsamkeit mit diesem Thema, nach wie vor. Wir bieten Weiterbildungen an, für Fachkräfte einerseits, andererseits aber auch für erwachsene Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zum Thema Freundschaft, Liebe und Sexualität. Supervisionen machen wir viel, Konzeptarbeit …

Q: Was ist eine „Supervision“? Was versteht man darunter?

A: Also da geh ich zum Beispiel oft in Heime und da bin ich dann mit einem Team zusammen. Da gibt es dann so genannte Fallbesprechungen.

Q: Also das Heimpersonal lässt sich von Dir beraten, als Gruppe?

A: „supervisieren“, ja. Also zum Beispiel heisst es dann dort: „Wir haben da die Ursula und den Paul. Die sind erst seit drei Monaten ein Paar. Und jetzt wollen die schon allein aufs Zimmer.“ Und dann sag ich dann: Diese Frage, die ich jetzt stelle, muss mir niemand beantworten, aber überlegen Sie sich mal: Als Sie sich zum letzten Mal verliebt haben, wie lange ist es gegangen, bis Sie zusammen aufs Zimmer gegangen sind? Und hätten Sie sich das von einem Siebner-Gremium bieten lassen?

Dann Konzeptarbeit. Wir unterstützen Institutionen oder auch Behörden Konzepte zu erarbeiten.

Wir machen auch Expertisen. zum Beispiel wurde ich von einer Kantonsbehörde, Aufsichtsbehörde gerufen, eine Expertise zu machen, wo ein Heimleiter auf drei Ebenen beschudligt war, sexuelle Ausbeutung gemacht zu haben. Auf der Ebene der behinderten Mädchen, auf der Ebene der behinderten Frauen, und zwei oder drei Anklagen liefen schon gegen ihn, von weiblichem Personal. Und der Vorstand wusste das seit zwei Jahren und hat nichts unternommen. Und mein Auftrag war dann zu schauen, wie es den betroffenen behinderten Menschen geht und abzuklären, was die jetzt brauchen.

Dann Rechtsgrundlagen, mit denen beschäftigen wir uns auch. Das schweizerische Gesetz weisst Lücken auf und aufgrund dessen meinen Vormundschafts-Behörden immer wieder, sie können die selbstbestimmte Sexualität unterdrücken oder ein Bisschen einschränken. Und vorallem: Wir haben seit vier Jahren wieder ein eugenisches Sterilisationsgesetz in der Schweiz. Und da werden wir sicher politisch aktiv werden, denn das muss sich wieder ändern.

Und wir haben Projekte, zum Beispiel unser „herzfroh“. Das ist das erste Aufklärungsmaterial, dass sich direkt an Menschen mit einer geistigen Behinderung richtet. Die Hefte bauen thematisch aufeinander auf. Es gibt vier Hefte pro Jahr.

Q: Und da baust Du dann diese Erfahrungen auch ein, die du jetzt bei deiner Arbeit sammelst.

A: Genau. Zu jedem Heft gibt’s Arbeitsblätter, mit denen sie das Thema vertiefen können. Und es ist sehr beliebt. Also wie bei uns früher die BRAVO.

Q: Aha, oke. Also das ist für die Leute selber, für die Betroffenen selber, die können damit dann auch selber arbeiten und haben auch Lust dabei.

A: Wir haben jetzt gerade eine ganz eindrückliche Erfahrung gemacht. Die letzten zwei Nummern waren über sexuelle Gewalt und in einem Heim wurde das in einer Gruppe verhandelt anhand dieser Blätter und Hefte. Und dann sind zwei Männer in den Frühlingsferien nach Hause gegangen und haben ihren Eltern erzählt, dass sie vom Betreuer sexuell ausgebeutet werden.

Q: Dann ist es also sehr wichtig für die Leute, dass sie erfahren, dass das was man ihnen antut sexuelle Gewalt ist und sie sich dagegen wehren können.

A: Die meisten sind nicht sexuell aufgeklärt. Das ist das Problem.

Q: Die wissen gar nicht, worum es da eigentlich geht.

A: Nein. Und ein weiteres Projekt, dass wir haben: Wir möchten uns im August in ein Haus zurück ziehen, zusammen mit acht Frauen mit geistiger Behinderung und einen Dokumentarfilm machen, wo man sieht wie ich mit diesen Frauen ihre sexuellen Traumatas als Psychotherapeutin aufarbeite. Dieses Projekt wurde initiiert von einer betroffenen Frau selber. Sie hat immer wieder gesagt, dass sie mit mir in einer Gruppe darüber sprechen möchte. Und dann hab ich gesagt: „Ja, klar.“ Da sagt sie: „Ja aber wir müssten das so machen, dass die Leute das hören. Die Leute wissen ja gar nicht, dass uns das passiert.“ Da sag ich: „Ja klar, aber wo müssten die Leute das hören?“ Sagt sie: „Am Fernsehen.“ Sag ich: „Ja willst du einen Film machen?“ Dann sagt sie: „Kann man Filme machen?“ Dann sag ich: „Ja, das kann man machen.“

Q: Ja, ich möchte nachher nochmal drauf zurück kommen. Aber ich hab noch eine kurze technische Frage: Wie kommt man an die fabs ran? Und kostet das was für die Betroffenen, wenn sie bei Dir Beratung suchen?

A: Technisch kommt man an uns ran in dem man uns anruft (Telefon 061 683 00 80) oder eine Mail schickt (info@fabs-online.org). Wir sind froh, wenn die Leute die Beratung bezahlen können, denn wir sind finanziell eigentlich am untergehen. Aber wir lehnen keine einzige Beratung ab weil sie nicht bezahlt werden kann.

Q: Also wer bezahlen kann, möchte gerne bezahlen.

A: Genau.

Q: Aber Ihr lehnt niemanden ab. Sehr gut. Wenn man bedenkt, wie wichtig Sexualität im Leben von Menschen überhaupt ist du welch ein Loch sich da im Behinderten-Bereich über die Jahre angesammelt hat – ein riesiger Nachholbedarf – würde man doch denken, dass die Behinderten-Organisationen, die Dach-Organisationen, die Institutionen sehr froh sind, dass diese fabs existiert und sie sich auch gerne an der Finanzierung beteiligen würden.

A: Der erste Teil stimmt. Sie sind sehr froh, und sie schieben sofort jedes Problem, jedes Telefon bei dem das Thema Sexualität erwähnt wird, an die fabs ab. Aber sie beteiligen sich finanziell nicht.

Q: Unglaublich.

A: Sie wollen mit diesem Thema einfach wirklich nichts zu tun haben, wollen damit nicht identifiziert werden. Und das finde ich ganz schwierig.

Q: Wenn ich Dich so höre, dann denke ich, wir müssten eigentlich das Recht auf Lust, auf Lebenslust genauso in der Gesellschaft und in den Gesetzen verankern, wie das Recht auf Zugang zum öffentlichen Verkehr und so weiter. Denkst Du, das ist realistisch? Oder was braucht es, was muss geschehen, damit sich diese Situation grundlegend verändert?

A: Ich denke nicht, dass wir rechtlich das Recht auf Lust verankern können, aber ich wäre wahnsinnig froh, wenn man endlich einsehen würde, dass auch Menschen mit einer Behinderung das Recht haben auf sexuelle und reproduktive Gesundheit. Und die ist zur Zeit nicht gewährleistet. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen sexuelle Gewalt erfahren müssen… Da wird ganz viel von den Folgeerscheinungen dann einfach auch unter die Behinderung subsummiert. Und es wird nicht hingeschaut, womit das zu tun hat. Zum Beispiel heisst es dann einfach: Ja zur Trisomie 21 kommt jetzt halt noch eine Epilepsie dazu. Obwohl es keine Epilepsie ist, sondern nur Schwindelanfälle. Und die sind eine Folgeerscheinung von der sexuellen Gewalterfahrung. Also das finde ich ganz wichtig, dass endlich auch da das Recht besteht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit. Es muss in den Gesundheitsbereich hinein kommen.

Q: Und wie denkst Du könnte man das Finanzierungs-Problem … Also wir haben da ja, wie Du vorher gesagt hast, ein ernsthaftes Problem, dass offensichtlich alle gern die Verantwortung bei dir abladen, und die Probleme bei dir abladen, aber niemand sich getraut, offen dazu zu stehen und auch die Finanzierung sicher zu stellen, die nötig ist, damit diese Dienstleistung, die Ihr erbringt, überhaupt bezahlbar wird. Damit sicher gestellt wird, dass das langfristig da ist, dass das Wissen gesammelt wird und sich langfristig etwas verändert.

A: Es hat sich in den letzten 2 oder 1.5 Jahren deutlich gezeigt: Diese Fachstelle ist finanziell nicht zu retten, wenn wir nicht einen Auftrag bekommen vom Staat, also Subventionen. Mit Stiftungen allein geht das nicht, denn die meisten Stiftungsräte sind 70 Jahre oder älter und die haben nicht so ein aufgeschlossenes Verständnis für das Thema Sexualität und Behinderung. Ich denke es geht nur über den Staat. Ich habe es jetzt so viele Jahre lang versucht und finde es ganz schwierig. Bei den Behinderten-Verbänden hat sich ganz klar gezeigt, – auch jetzt wieder in Gesprächen die wir geführt haben – die werden uns finanziell nicht unterstützen.

Q: Unglaublich. Aber ich hoffe, dass jetzt wenigstens durch dieses Interview jene Stiftungsräte, welche keine veraltete Ansicht über Sexualität haben, aufgeweckt werden, dass unsere Zuschauerinnen und Zuschauer vielleicht auch Kontakte schaffen können, zu Menschen die verstehen, wie wichtig dieses Thema für sie selber und damit auch für uns ist und vielleicht bei der Finanzierung mithelfen. Ich denke als zweites müssen wir Behinderten-Organisationen auch ganz klar in Richtung Bund die Botschaft schicken: Das ist ein viel wichtigeres Thema – für alle Menschen, nicht nur für die Behinderten – als viele viele andere vom Bund finanzierte Hilfen an Behinderte. Ich denke das ist eines der zentralsten Themen des Lebens überhaupt. Das zu negieren kann einfach nicht die Sache sein, die wir erlauben dürfen. Da muss von allen Seiten eine klare Botschaft kommen.

A: Es fördert sogar die Unterdrückung der Sexualität von Menschen mit Behinderung. Es fördert die Gewalt, ganz massiv. Und das muss man einfach sehen.

Q: Und eben die Aufklärung und die Möglichkeit, sich mit Lust zu beschäftigen fördert auf der anderen Seite das Wissen und damit den Schutz vor Gewalt. Kann man das auch so sagen? Wenn die Leute Worte haben, mit denen sie auch beschreiben können, wie ihr Körper fühlt und wie sie sich fühlen, was dabei vorgeht, dann sind sie auch besser geschützt. Wenn sie Kontakte haben zu Leuten, denen sie vertrauen und mit denen sie über Sexualität reden können, sind sie besser geschützt. Es ist also eine doppelte Geschichte. Einerseits zum Schutz, andererseits um die Lebensqualität der Menschen zu sichern.

A: Ja, und zu erhöhen. Wir arbeiten in der Prävention und das ist auch ganz wichtig.

Q: Ja Aiha, dann bedank ich mich ganz herzlich für dieses Interview. Ich hoffe, dass wir damit einen kleinen Beitrag leisten können und das sich Leute finden werden, die Leute kennen, die Dir Kontakte schaffen können, zu Leuten, vielleicht in Stiftungsräten, die keine verknöcherte Sexualität mehr pflegen und vielleicht auf diesem Weg etwas zur Finanzierung der fabs beitragen. Mir scheint das ein ganz wichtiges Anliegen zu sein. Vielen Dank.

A: Vielen herzlichen Dank. Diese Hoffnung habe ich natürlich auch.

Q: Danke und auf Wiedersehen.

A: Auf Wiedersehen.

www.fabs-online.ch
Tel. 061 683 00 80
info@fabs-online.org
PCK 40-271290-7

Wir danken Aiha Zemp für ihren Besuch.

SL-TV 2010

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