Profil: Wie erleben Sie Ihr Gerichtsverfahren wegen Mordverdacht?

Das Nachrichtenmagazin bringt in seiner aktuellen Ausgabe ein Interview mit Dr. Heinrich Gross, bei dem auch Elfriede K. und der Anwalt von Gross anwesend waren.
Gross: Na ja, es geht auf meine Nerven natürlich und auf mein Herz.
Profil: Sie sind vom Gericht bisher nicht einvernommen worden?
Gross: Na, ich kann ja gar net dorthin gehen. Das regt mich ja zu sehr auf, daß ich da stenokardische Beschwerden (Anm.: anfallsartige heftige Herzbeschwerden) bekomme.
Profil: Und wenn das Gericht hierher käme?
Gross: Das nützt ja nichts. Ich kann ja nichts aussagen, ich hab‘ ja schon fast alles vergessen. Ich weiß meine allgemeinen Daten, aber von einzelnen Fällen, die sie mir zum Vorwurf machen, da weiß ich gar nix mehr.
Profil: Verstehen Sie die Anhaltspunkte für den Mordverdacht?
Gross: Na ja, ich meine, aufgrund der Untersuchung, die der aus Deutschland da gemacht hat, nach dessen Aussage ist das ja wohl berechtigt, das ganze Verfahren. Es geht um 1944, da war ich nur kurz hier, sonst war ich in Albanien und zuletzt an der Westfront. In Albanien bin ich krank geworden.
Profil: Wissen Sie, wann Sie 1944 „Am Spiegelgrund“ waren?
Gross: Ich bin aus dem Heereslazarett Stammersdorf entlassen worden auf Genesungsurlaub, und während dieser Zeit, glaube ich, soll das passiert sein.
Profil: Sie haben die Stationsärztin vertreten, die krank war. Spitalsleiter Illing wollte von Berlin eine „Sonderzuwendung“ für Sie.
Gross: Da hab‘ ich auch was gekriegt. Das kann ich Ihnen schon sagen, es war so: Er hat selbst vier Kinder gehabt, ich hab‘ drei Kinder gehabt, und da hat er mir was zukommen lassen aus rein sozialen Gründen, und ich hab‘ dafür nur Krankengeschichten verfaßt. Von Leuten, die gestorben sind.
Elfriede K.: Verfaßt haben Sie sie nicht, nur dekursiert, nachgetragen, Fieberkurven nachtragen, Schreibarbeit, da muß man die Patienten gar nicht kennen.
Profil: Sie haben auch Kinder untersucht. Hier ist die Krankengeschichte eines Buben, der im Juli ’44 aufgenommen wurde und kurz darauf tot war. Den „Körperbefund“ haben Sie gemacht.
Gross: Wie er noch g’lebt hat.
Profil: Das war ein eineinhalb Monate alter Säugling, und nach drei Wochen war er tot.
Gross: Na ja, die haben ja eine mindere Lebenschance gehabt, die Kinder an sich.
Anwalt Lehner: Warum hatten die eine mindere Lebenschance?
Gross: Na ja, die Mongoloiden.
Profil: In Ihrem Befund steht nichts von akuter Erkrankung.
Gross: Das kommt ja plötzlich (studiert das profil-Dokument), da hab‘ ich noch geschrieben: „Entwicklung abwarten.“
Profil: Ein anderer Bub wurde am 24. Juli 1944 von Ihnen untersucht. Seine Kieferlippenspalte und den erweiterten Augenabstand werteten Sie als „schwere Mißbildung“. Der Bub wurde an den Reichsausschuß gemeldet, war vier Wochen später tot.
Gross: Darf ich nur etwas sagen zur Praxis. Die Meldung an den Reichsausschuß mußten alle machen. Der Reichsausschuß hat nach angemessener Zeit eine, na, Ermächtigung erteilt, das Kind zu töten. Aber das kann nicht in der kurzen Zeit …
Anwalt Lehner: Wie lang hat das normal gedauert?
Gross: Wochenlang, monatelang meistens.
Profil: Wenn die Ermächtigung zu töten da war, wer hat sie ausgeführt?
Gross: Die Schwestern.
Profil: Die Ermächtigung kam an die Ärzte.
Gross: Die haben dann den Auftrag erteilt.
Profil: Haben Sie solche Aufträge erteilt?
Gross: Na. Schauen Sie, ich bin ja bei meinem ersten Prozeß sogar als Gegner der Euthanasie bezeichnet worden. Als ich als Arzt auf die Baumgartner Höhe gekommen bin und von dem Euthanasieprogramm erfahren habe, bin ich zweimal freiwillig eingerückt, um dem zu entgehen.
Profil: Sie haben gewußt, was passierte.
Gross: Da waren ja zwei Abteilungen, eine für „diese“ Kinder, eine andere für Verhaltensgestörte, dort war ich hauptsächlich.
Profil: Sie haben selbst 14 Kinder an den Reichsausschuß gemeldet.
Gross: Ist schon möglich.
Profil: Man meldete Kinder, die einem als „lebensunwert“ galten.
Gross: Na, deswegen muß ich sie nicht umbringen, wenn ich sie melde.
Profil: Sie haben Kinder gemeldet. Sollten die Ihrer Meinung nach sterben?
Gross: Na. Bestimmt nicht, die wären so auch gestorben.
Profil: Wenn Sie nicht mitmachen wollten – warum sind Sie in Ihrem Urlaub auf den Reichsausschuß-Pavillon zurückgekehrt?
Gross: Weil mich Illing gebeten hat, ich soll die Krankengeschichten schreiben. …
Profil: Haben Sie „Reichsausschußkinder“ sterben sehen?
Gross: Die haben ja alle Beruhigungsmittel bekommen, Luminal glaub‘ ich, das haben andere auch bekommen, das war nix Besonderes, daß sie da schlafen.
Profil: Wie sind diese Kinder gestorben?
Gross: Eing’schlafen.
Profil: Und warum hieß die Todesursache Lungenentzündung?
Gross: Die kriegt man, wenn man da längere Zeit … übermäßig.
Profil: Wurden trotz Kälte die Fenster geöffnet, um die Kinder zu schwächen?
Gross: Ja.
Profil: Sie sagten, Sie sehen die Voruntersuchung aufgrund der Analyse des deutschen Mediziners Dahl ein.
Gross: Das habe ich gesagt, ja.
Anwalt Lehner: Kennst du diese Arbeit überhaupt?
Gross: Ich habe gesagt, wenn er mit seinen Vorhalten recht hat, daß ich da Krankengeschichten … Wenn das stimmt, was er geschrieben hat, treffen mich diese Vorhalte zu Recht, aber ich weiß nicht, ob es stimmt.
Profil: Warum haben Sie in Ihrem Prozeß 1950 nicht gesagt, daß Sie 1944 nochmals auf der „Reichsausschußabteilung“ waren?
Gross: Bin ich nicht gefragt worden.
Profil: Nicht bekannt war damals auch die Sache mit der Prämie für besonderen Einsatz.
Gross: Das hat Illing schreiben müssen, sonst hätte er mir ja kein Geld geben können.
Profil: Meinen Sie, daß der Spitalsleiter Berlin um eine Prämie ersucht und dabei lügt?
Gross: Na Lügen, ist ja kein Lügen direkt.
Anwalt Lehner: Er wollte Dr. Gross gefällig sein.
Profil: Sind Sie im Spital auch in Uniform aufgetreten?
Gross: Ja, freilich.
Profil: In welcher?
Gross: Wehrmacht natürlich.
Profil: Sie haben nach 1945 jahrzehntelang an den Gehirnen dieser Kinder geforscht. Unter diesen Leichenteilen sind auch zwei Kinderköpfe. Wissen Sie, warum von Kinderleichen Köpfe abgetrennt worden sind?
Gross: Das war eine Mißbildung wahrscheinlich. Ich hab‘ keine Ahnung.
Profil: Sie haben diese Leichenteile als „unser Material“ bezeichnet. Sie haben sich gebrüstet, es sei „das größte und zugleich auch so ziemlich das auslesefreieste dieser Art“.
Gross: Weil’s da war, weil ich das bearbeiten wollte.
Elfriede K.: Es waren ja andere auch noch, viele andere. Anwalt Lehner: Was, viele andere?
Elfriede K.: Na, Hirne, wir haben ja genug Gehirne gehabt.
Profil: Erinnern Sie sich an eines der Kinder?
Gross: Nein, nicht ein einziges.
Profil: Hatten Kinder für Sie medizinisch nach dem „Spiegelgrund“ noch Bedeutung?
Gross: Nein.
Profil: Was war für Sie medizinisch wichtig?
Gross: Schon die Gehirne zu sezieren von den … Ich hab‘ klinisch auch gearbeitet.
Profil: Warum hatten die Gehirne für Sie so große Bedeutung?
Gross: Schon, weil noch vieles unentdeckt war, es war noch verschiedenes zu klären.
Profil: Ist Ihnen etwas gelungen?
Gross: Ich hoffe (lacht).
Anwalt Lehner: Gibt es etwas wie eine Gross-Entdeckung?
Elfriede K.: Kein Nobelpreis.
Profil: Den ersten Vortrag über Gehirnschnitte haben Sie bereits 1942 gehalten.
Gross: Ja, das war, was war denn das? … Das war gar net ein Reichsausschußkind, sondern das ist leider frühzeitig verstorben, eine Mißbildung des Körpers, der Extremitäten und des Gehirnes.
Profil: Nochmals zum Reichsausschuß. Sie haben keine Ermächtigung weitergegeben?
Gross: Nein, des wäre ja der Auftrag gewesen zur Euthanasie.
Profil: Erinnern Sie sich, je gesagt zu haben, „lassen wir dieses Kind leben, obwohl die Tötungsermächtigung da ist“?
Gross: Nicht, lass‘ ma’s leben, sondern Entwicklung abwarten oder so.
Anwalt Lehner: Wäre das für dich als Jungarzt überhaupt möglich gewesen? War der Chef autoritär, oder wart ihr freundschaftlich verbunden?
Gross: Freundschaftlich verbunden.
Profil: Die Gerichtsmedizin Innsbruck hat Leichenteile für Ihr Verfahren untersucht.
Gross: Was sollen die da feststellen?
Profil: Was wäre Ihr Plädoyer in eigener Sache?
Gross: Das hab‘ ich eh schon gesagt. Daß ich ein Gegner war der Euthanasie, daß ich den Spitalschef Illing nur vertreten habe aus sozialen Gründen und weil ich selber ein Geld hab‘ haben wollen.
Profil: Und Sie hätten 1944 nicht sagen können, daß Sie da nicht mitmachen?
Gross: Ja, das hat er gar nicht verlangt von mir. Er hat ja nur gesagt, ich soll die Krankengeschichten schreiben. Weil er niemanden sonst gehabt hat.
Elfriede K.: Weil er niemanden Blöden fand.
Profil: Denken Sie an Ihren Mordprozeß?
Gross: Ich bin ja gar nicht verhandlungsfähig.
Profil: Denken Sie dennoch daran?
Gross: Ja.
Elfriede K.: Er spricht ja dauernd davon, bitte.
Profil: Was sind da Ihre Gedanken?
Gross: Sagen wir, wenn Sie das hier als Vernehmung betrachten, sag‘ ich, ich kann net.
Anwalt Lehner: Fühlst du dich unschuldig verfolgt?
Gross: Unschuldig, was soll ich sagen, unnötig vielleicht.
Profil: Was ist Ihr Urteil über die NS-Zeit?
Gross: Na ja, schreckliche Zeit.
Profil: Was war das Furchtbarste?
Gross: Das von dem Illing das.
Profil: Schrecklicher als der Frontkrieg?
Gross: Na ja, schrecklicher net.
Profil: Hier ist ein Foto der vierjährigen Annemarie D., sie war wegen Rachitis pflegebedürftig. Sie diagnostizierten „tiefstehend idiotisch“. Würden Sie heute so urteilen?
Gross: Ich weiß es nicht, nach dem Foto kann man nicht …
Elfriede K.: Es schauen oft manche ganz blöd aus und sind intelligent, umgekehrt auch.
Profil: Die Schwester dieses Mädchens hat die wahre Todesursache erst jetzt erfahren. Können Sie sich vorstellen, wie sie leidet?
Gross: Möglich ist alles.
Profil: Ich habe mit einer Mutter gesprochen, die ihr totes Kind im Sommer 1944 vom „Spiegelgrund“ abholen mußte. Was würden Sie dieser Mutter heute sagen?
Gross: Was soll ich ihr sagen?
Profil: Was würden Sie ihr sagen?
Gross: Na nix, sehr traurig, daß das Kind gestorben ist, daß es begreiflich ist.
Anwalt Lehner: Wenn du zurückschaust, bist du mit deinem Leben zufrieden?
Elfriede K.: Nein, nein! Er sagt ja immer, er hat alles falsch gemacht.
Profil: Was meinen Sie damit?
Gross: (zu K.): Sagen Sie ihr, was ich alles falsch gemacht habe.
Elfriede K.: Das mit dem Nationalsozialismus, die ganze Zeit da in der Kinderklinik.
Gross: Ich kann es nicht konkretisieren, es ist so ein Gefühl, wie man es bei Depressionen hat, daß man alles falsch macht.