Interview mit einer Mitarbeiterin von NINLIL

Folgendes Interview wurde im Oktober 2002 von Berufsverband der BehindertenbetreuerInnen von Heidrun Aigner zum Thema sexuelle Gewalt geführt.

NINLIL
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Das Begehren, Übermacht zu zementieren; Interview mit Klaudia Gruber, Mitarbeiterin des Verein NINLIL.

Je weniger klare und sichtbare Grenzen existieren, desto leichter können Verletzungen dieser geschehen. Je ungleicher Macht verteilt ist, desto mehr kann diese missbraucht werden. Umso hierarchischer die Strukturen, desto geschützter die TäterInnen. In der Arbeit mit behinderten Menschen geht es stets auch um Arbeit in Grenzgebieten: institutionelle Grenzen, Grenzen der Betreuenden, Grenzen jener, die sich in Betreuungsabhängigkeit befinden. Am stärksten von Übergriffen bedroht sind diejenigen, die sich auf der untersten Stufe der Hierarchie befinden: behinderte Frauen. Grenzverletzungen finden oft mit sexueller Gewalt verschränkt statt.

Klaudia Gruber ist Mitarbeiterin beim „Verein Ninlil – wider die sexuelle Gewalt gegen Frauen, die als geistig und mehrfach behindert klassifiziert werden“. Sie ist zuständig für die Projekt-Koordination,für Beratungen, Management und Fortbildungen

Wie lautet die Definition von Missbrauch und sexueller Gewalt?

Sexualisierte Gewalt bezeichnet einen Diskriminierungs-Ansatz aufgrund von Geschlecht. Das beginnt dort, wo Frauen z.B. verbal belästigt werden. Der Begriff ist ein sehr weiter und meint nicht nur die enge Fassung körperlicher Übergriffe. Dazu gehört auch, die Sexualität einer Person nicht anzuerkennen. Sexuelle Ausbeutung und Missbrauch basieren auf dem Begehren, Übermacht zu zementieren du nicht auf sexueller Befriedigung.

In der Behindertenarbeit überschreiten wir permanent Grenzen – sei es, dass wir fremde Zimmer betreten oder Menschen bei der Körperpflege berühren. Das ist auch für BetreuerInnen schwierig.

Ich würde auf möglichst ausführliche Artikulation zwischen denen, die betreuen und denen, die in Betreuungsabhängigkeit sind, setzen. BetreuerInnen sind mit dem Ergebnis der Vorgeschichte der BewohnerInnen oder WerkstättenmitarbeiterInnen konfrontiert, und natürlich auch umgekehrt. Viele haben Übergriffe und körperliche Enteignung über Diagnoseprozesse erlebt. Es ist gut, wenn ein Team beschließt, sich mit der Geschichte einer Frau auseinanderzusetzen. Dazu ist es notwendig, ein reflexives Verhältnis zur eigenen Geschichte und Praxis als BetreuerIn zu entwickeln.

Artikulation im Sinne von transparent machen?

Ja. Auch transparent zu machen, wenn es jemandem nicht gut geht mit der Betreuungsaufgabe. Und das ist manchmal sehr schwierig, wenn es unterschiedliche Kommunikationsformen gibt. Es braucht Offenheit, Phantasie und die Bereitschaft, sich mit eigenen Gefühlen zu zeigen.

Die Missbrauchsgefahr steigt mit der Schwere der Behinderung, denke ich. Und da wird Transparenz und Artikulation schwieriger.

Schwerbehinderte Frauen kriegen mehr mit, als man ihnen zuschreibt. Auch wenn verbal nicht so viel transportierbar ist, wird auf jeden Fall die Haltung einer Betreuerin spürbar.

Nur ist der Raum, um diese Themen in Teams zu diskutieren, sehr beschränkt. Oft geht es auch um eigene Grenzen, und wenn die an Arbeit stoßen, die gemacht werden muss, hat man Pech gehabt.

Es könnte ein Anfang sein, danach zu suchen: was sind geschlechtssensible und frauenfreundliche Alltags-Praxen, und die dann zu vertiefen. Das kann bedeuten, dass ein Betreuer lernt, zuerst zu klopfen oder zu fragen, bevor er etwas tut. Das berührt auch die Frage: welche Schwellen lassen sich vor die Geschwindigkeit der Routine einbauen, damit Zeit ist, Bedürfnisse zu artikulieren? Die Diskrepanzen zwischen denen, die betreuen, sind groß, und es gibt wenig Standards, was Gewaltprävention angeht. Hier müssen von Seiten der Behinderteninstitutionen auch Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.

Wer sind die Täter? Sind das immer nur Männer?

Zu uns gelangen bisher ausschließlich Fälle, in denen Männer Täter sind, wenn es um sexuelle Ausbeutung oder Missbrauch geht. Wir haben mit Fällen zu tun, wo sexuelle Ausbeutung innerhalb der WG passiert, aber auch in den Herkunftsfamilien der Frauen.

Frauen sind nie Täterinnen?

Bei Übergriffen von Frauen geht es kaum um sexuelle Gewalt. Gewalt in der Betreuungsarbeit kann zu wenig oder zu viel Fürsorge bedeuten, Sanktionierung und Regulierung über Entzug von Existenziellem. BetreuerInnen und vor allem Frauen haben einerseits mit Überforderungsstrukturen, andererseits mit Overprotecting-Haltungen zu tun. Das will ich auch im Zusammenhang mit der vorherrschenden gesellschaftlichen Norm verstanden wissen, wo Frauen sowohl ökonomisch als auch symbolisch unterprivilegiert sind. Das gesellschaftliche Defizit kann über die anerkannte Rolle als Helferin kompensiert werden.

Wer nimmt das Angebot von Ninlil in Anspruch?Und für wen?

Zu uns kommen Teams in Aufruhr, wenn eine Bewohnerin vergewaltigt worden ist oder wenn Teams in speziellen Begleitungsfragen Unterstützung suchen. Fälle, bei denen es um sexuelle Ausbeutung durch Betreuungspersonen geht, gelangen nicht zu uns. Auch das ist sehr hoch tabuisiert, das versuchen die Institutionen intern zu regeln. Den größte Anteil der Kontakte machen BezugsbetreuerInnen aus, durchaus auch Männer.

Wie kann die Begleitung eines Teams aussehen?

Es kann reichen, Infos zu geben: wo kann ich hingehen, welche Ressourcen gibt es, oder zu überprüfen, ob das Ziel stimmt. Wenn Ziel ist: wie bringe ich eine Frau dazu, Therapie zu machen, kann die Veränderung der Perspektive sein: wie bringen wir uns dazu, Fallsupervision zu erkämpfen? Es ist nötig, dass das Umfeld genau weiß, wie es sich selbst entlasten kann, wie es für Sicherheit der Frau sorgt. Wie es mit Traumatisierungen oder Belastungsstörungen umgeht.

Wie sieht die Vorgehensweise aus, die ihr euch wünschen würdet?

Ich würde mit BetreuerInnen gerne stärker an der Frage von Geschlechtergerechtigkeit arbeiten. Und wie ein Wohn- oder Arbeitsplatz aussehen kann, wo sich frauenfreundliche Strukturen etablieren können. Wir wissen um den Zusammenhang von rassistischen und sexistischen Strukturen. Dieses Wissen sollte stärker auf den Behindertenbereich angewendet werden.

Wenn das Team findet, dass ihr nicht gut arbeitet, werdet ihr wahrscheinlich auch nicht mit der betroffenen Frau weiterarbeiten können.

Das kommt vor. Wir versuchen zunehmend, die Frauen zu erreichen. Wir wollen aber auch nicht in erster Linie Beratungsstelle sein, sondern Koordinationsstelle. Eine Schnittstelle zwischen den Frauen, den Institutionen und den anderen Einrichtungen des Opferschutz-Bereichs. Und wenn wir Zugänge schaffen wollen, müssen wir uns auch mit den Barrieren auseinandersetzen. Die Barriere heißt oft Institution, gleichzeitig ist die Institution oft der Zugang.

Ich erlebe immer wieder, dass Frauen in Betreuungsabhängigkeit Unterdrückungsmechanismen und patriarchale Strukturen verinnerlicht haben und aktiv bejahen. Wie geht ihr damit um?

Rollenbilder aufzubrechen oder zu reflektieren ist ein Teil der Seminare. Diese Diskrepanz, dass die zu Betreuenden oft so „konservativ“ wirken und die Betreuerinnen so „progressiv“, belebt das pädagogische Interesse von BetreuerInnen. Man kann weder bei behinderten noch bei nichtbehinderten Frauen erwarten, dass sie auf progressive Konzepte einsteigen, wenn sie fünfzig sind. Das muss man zum Teil einfach schlucken. Ich finde es aber wichtig, dass es Frauen und Feministinnen gibt, die Impulse setzen

Diese Impulse zu setzen bedeutet manchmal Beziehungsabbruch.

Was ich spannend finde sind Verrücktheitskonzepte. Formen von anderen Normen. Manchmal wirkt Verhalten von A-Normalisierten Personen wie eine Persiflage auf die dominante Norm. Das ist schon interessant, was an Norm inhaliert wird und wie das wieder ausgespuckt wird. Nicht linear angepasst, sondern auf die eigenen Normen hin adaptiert. Das kommt wie ein Feedback auf die Dominanz-Norm. Aber Frauen, die da feministische Inhalte transportieren wollen, Rollenbilder aufbrechen wollen, müssen einen langen Atem haben. Wo es so starke Hierarchisierungen gibt, läuft viel über Nachahmung. Und dann kommt eine in die Situation, ein Vorbild zu sein. Es ist ein ständiges Tun damit, hierarchisch „weiter oben“ verortet zu sein, und gleichzeitig die Hierarchie angreifen zu wollen.

Wo siehst du die spezielle Bedrohung von sexualisierter Gewalt für behinderte Frauen im Gegensatz zu nichtbehinderten Frauen?

Behinderte Frauen stehen in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten. Die Entwicklung von Eigenmacht und Selbstbestimmtheit wird bei Mädchen mit Behinderungen wenig gefördert. Von Kind an werden Körpergrenzen überschritten – das sehe ich als Hauptfaktor, warum sexualisierte Gewalt in dem Bereich so viel häufiger passiert. Weiters mangelt es an Aufklärung. Auf einer kognitiven Schiene ist Aufklärung manchmal nicht möglich, dann muss es Grenzübungen geben. Aber es wird immer Menschen mit hoher Betreuungsabhängigkeit geben, die stark auf ihr Umfeld angewiesen sind. Da braucht es ProfessionistInnen, die sehr genau hinschauen, die Sinne ganz offen haben und sensibilisiert auf Übergriffe und Grenzen sind. Das sollte in den Ausbildungskontexten viel stärker geübt werden können.

Was sind eure Vorstellungen von sexualpädagogischer Begleitung?

Es sollte darüber gesprochen werden, was Beziehungen sind, über Vorlieben und sexuelle Wünsche, körperliches und psychosexuelles Wohlbefinden. Es muss eine Alltags-Diskussion dazu stattfinden. Technische Aufklärung und Unterstützung ist zu wenig.

Das ist eine hohe Forderung an BetreuerInnen.

Oft gibt es Pornos oder Telefonnummern von Prostituierten. Manche BetreuerInnen kommen sich mutig vor, wenn es diese Art der Vermittlung gibt. Dann findet in den Werkstätten Sex am Klo statt und alle fragen sich, wie sie damit umgehen sollen. Und bräuchten eigentlich Selbsterfahrung mit der eigenen Norm. Das ist ein Bereich, wo man sich mit den eigenen Grenzen und Bedürfnissen auseinandersetzen muss. Und sich in Teams fragen muss: welchen Stil führen wir ein? Was ist passend? Und wo ist ein Anfang?

Da bräuchten Teams auch Begleitung.

Die fehlt. Eine mit Ninlil vernetzte Arbeitsgruppe versucht gerade, verschiedene Konzepte zu sexualpädagogischer Begleitung weiterzuentwickeln, so etwas wie einen Leitfaden zu erarbeiten und Öffentlichkeit zu erzeugen

Inwiefern versteht sich die Arbeit von Ninlil als politisch?

Es geht nicht darum, noch einen Betreuungskontext aufzumachen, nämlich die Betreuung von Opfern sexualisierter Gewalt. Sondern darum, generell Arbeit gegen Diskriminierung zu machen. Politische Arbeit gegen Diskriminierungsstrukturen.

Wir sollten jetzt vor der Wahl Druck machen. Aber was haben wir für eine politische Kraft? Viele Menschen in Betreuungsabhängigkeit sind wahlberechtigt und gehen nicht wählen. Da müssen alle, die im Behindertenbereich verortet sind, zusammen arbeiten. Ich würde mir wünschen, dass sich eine an diesen PC setzt und das initiiert! Und sagt, es muss für Frauen mit Behinderungen mehr getan werden.

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