Interview mit Gross: „Natürlich habe ich Schuldgefühle“

Der Standard: Der Wiener Arzt Heinrich Gross wird der NS-Euthanasie bezichtigt. Die Kinder am "Spiegelgrund" hätten wenigstens kein Bewußtsein gehabt, erklärte er, er selbst habe keine Morde begangen.

Heinrich Gross
APA

Das Interview ist im „Der Standard“ erschienen:

STANDARD: Ihnen droht ein Mordprozeß im Zusammenhang mit der NS-Euthanasie am Wiener Steinhof, in der neurologischen Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund. Wie gehen Sie damit um?

Gross: Ich sehe mich in diesem Zusammenhang nicht für schuldig. Weil das ist, bitteschön, ich kann mich ja an diese Zeit nicht mehr erinnern. Aber jedenfalls war das zu einem Zeitpunkt, wo ich beim Militär war und wo ich nur auf Genesungsurlaub war. Ich war ja lange Zeit im Lazarett. Also ich hab da mein Gehalt bezogen, ich habe drei Kinder schon gehabt. Da hat mich der Anstaltsleiter, der Illing, gebeten, ob ich nicht in dieser Zeit für ihn was machen könnte auf der Abteilung. Und soweit ich mich erinnere, hat das lediglich umfaßt, die Krankengeschichten zu schreiben. Aber keine Behandlung selbst vorzunehmen. Ich war ja nur kurze Zeit dort. Bin ja dann wieder an die Front gekommen.

STANDARD: Haben Sie für die Krankengeschichten auch Diagnosen gestellt?

Gross: Bitte schön, ich kann mich nicht erinnern.

STANDARD: Wenn Sie behaupten, unschuldig zu sein, wie erklären Sie sich dann, daß Sie jetzt ausgerechnet von jener Ärztin schwer belastet werden, mit der Sie am Spiegelgrund gearbeitet haben?

Gross: Das ist eine eigene Geschichte. Die hat damals gesagt, ich war nix und jetzt sagt sie, ich war was.

STANDARD: Es gibt aber auch Zeugen, die als Kinder am Spiegelgrund waren und Sie ebenfalls schwer belasten.

Gross: Na ja, schwer belasten ist übertrieben. Die sagen, daß sie da Injektionen bekommen haben. Die haben alle Injektionen bekommen.

STANDARD: Was für Injektionen waren das?

Gross: Das waren Beruhigungsinjektionen, die aber gleichzeit einen Brechreiz hervorgerufen haben. Da muß man sagen Speiberlspritzen.

STANDARD: Wie sind die behinderten Kinder behandelt worden?

Gross: Na, mein Gott. Was halt angeordnet worden ist. Es hat ja damals noch nicht viel gegeben. Das übliche halt.

STANDARD: Laut Krankengeschichten sind die meisten Kinder an Lungenentzündung gestorben. Warum?

Gross: Das kriegt man ja.

STANDARD: Wodurch?

Gross: Das kriegen alle, die Beruhigungsspritzen kriegen.

STANDARD: Hat man die wegen der tödlichen Lungenentzündung gespritzt?

Gross: Deswegen nicht. Das war eine Begleitwirkung.

STANDARD: Wie wurden die Kinder umgebracht?

Gross: Na ja, Pulverln haben sie halt gekriegt.

STANDARD: Was für Pulverln?

Gross: Luminal und Schlafmittel. In großen Dosen.

STANDARD: Wer hat das angeordnet?

Gross: Der Illing.

STANDARD: Und wer hat es dann verabreicht?

Gross: Das Pflegepersonal.

STANDARD: Die waren das?

Gross: Ja, die.

STANDARD: Warum wirft Ihnen die Justiz dann eine Mitschuld an der Ermordung von neun Kindern vor?

Gross: Eine Mitschuld, na ja. Aber da hat der Gerichtsmediziner in Innsbruck doch geschrieben, anhand des Umstandes, daß die Gehirne Luminal zum Großteil drin gehabt haben, hat er darauf geschlossen, nur weil ich da war, daß ich das gemacht haben soll. Aber bitte schön, ich selber kann mich an keinen einzigen Fall da erinnern.

STANDARD: Haben Sie die Verabreichung von Luminal als Arzt damals angeordnet?

Gross: Ja sicher. Das hat man immer angeordnet bei unruhigen Kindern. Es ist aber ein Unterschied, ob man das so verordnet oder ob man das verordnet, um den Tod bei jemandem herbeizuführen.

STANDARD: Haben Sie dabei gewußt, daß man Kinder mit Luminal auch ermordet?

Gross: Das habe ich gewußt, ja. Nur habe ich damals den Illing gebeten, mich nicht damit zu befassen. Das hat er eingesehen und hat mich also dann auf eine andere Abteilung gegeben. Für schwer Erziehbare. Und ich habe mich auch freiwillig bei der Wehrmacht gemeldet.

STANDARD: Es heißt aber, daß Sie auch an der Abteilung, an der Kinder ermordet wurden, Befunde erstellt haben.

Gross: Ja, Befunde habe ich schon geschrieben.

STANDARD: Haben Sie diese auch an den Reichsausschuß in Berlin weitergeleitet?

Gross: Habe ich nicht. Das hat immer der Illing gemacht.

STANDARD: Und an wen ist dann die Ermächtigung aus Berlin ergangen, diese Kinder umzubringen?

Gross: Das ist auch an den Illing gekommen.

STANDARD: Hat der Klinikchef Ihnen diese Ermächtigung nie weitergegeben?

Gross: Nein, ich habe damit nichts zu tun. Interessant ist ja nur, daß die Tötung von diesen Schwachsinnigen von einem Sozialisten, der heute noch hoch geehrt wird, empfohlen wurde. Vom Julius Tandler. Der war der Gesundheitsstadtrat damals. Es sind so viele Idioten und Schwachsinnige da bei uns in Österreich, da müßte man was machen, die müßte man eigentlich töten. So hat der geschrieben damals.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Geschehnisse am Steinhof?

Gross: Dort sind Verbrechen geschehen, zweifellos. Nur habe ich die selber nicht begangen. Ich habe danach die Gehirne untersucht. Deswegen sind sie ja draufgekommen. Es ist nur interessant, die Krankengeschichten befanden sich dann in dem Boltzmann-Institut, das ich geleitet habe. Wenn ich da was gesehen hätte, was mich betrifft, hätte ich, bitte schön, das muß ich sagen, hätte ich wahrscheinlich diese Krankengeschichten entfernt.

STANDARD: Ihnen war aber bewußt, daß die Hirne, mit denen Sie Forschungen betrieben haben, von ermordeten Kindern aus dieser Zeit stammen.

Gross: Ja, ja, freilich.

STANDARD: Und?

Gross: Was wollen Sie? Man hat auch Hirne von Hingerichteten untersucht. Von dem muß man sich frei machen. Man muß die Gehirne, wenn man forschen will, muß man die untersuchen. Ich habe ja dann auch Arbeiten veröffentlicht darüber.

STANDARD: Hatten Sie keine moralischen Bedenken?

Gross: Das kann man nicht haben als Forscher.

STANDARD: Hat sich damals für Sie je die Frage nach dem Wert des Lebens gestellt?

Gross: Na ja, freilich hat man die – aber die haben wenigstens kein Bewußtsein gehabt, diese Kinder. Die haben nicht bewußt gelebt, bitte schön, so nehme ich das an. Aber diese Frage hat sich nicht gestellt, nein.

STANDARD: Sehen Sie das heute auch noch so?

Gross: Schwer behinderte Kinder leben nicht bewußt. Aber ich war nie ein Anhänger der Euthanasie.

STANDARD: Haben Sie Schuldgefühle?

Gross: Ja natürlich habe ich Schuldgefühle, überhaupt daß ich bei der Partei damals dabei war. Das ist für mich schon eine Sache, wo ich mir selber mißfalle.

STANDARD: Sie haben selbst drei Töchter. Sprechen Sie mit ihnen über diese Zeit und den drohenden Mordprozeß?

Gross: Nein, ich kann nicht. Das ist kein Gesprächsstoff.

STANDARD: Haben Sie Angst?

Gross: Nein. Ich befürchte nur, daß ich den Prozeß nicht aushalte. Sie sehen ja, daß ich keine Luft kriege, mir das aufs Herz geht und so weiter.

STANDARD: Eine große Belastung für Sie?

Gross: Das macht mich fertig, das ist für mich schlecht.

STANDARD: Nur der drohende Prozeß? War die Belastung des Erlebten oder Begangenen vor der Anklage geringer?

Gross: War geringer.

STANDARD: Haben Sie angenommen, daß Sie wegen der Geschehnisse am Steinhof noch einmal angeklagt werden?

Gross: Nein. Das war eine Überraschung.

STANDARD: Wenn es zu einem Prozeß kommt, rechnen Sie mit einem Freispruch?

Gross: Mir ist eigentlich schon alles wurscht. So viele Idioten und Schwachsinnige da bei uns in Österreich, da müßte man was machen, die müßte man eigentlich töten. So hat der geschrieben. Die haben wenigstens kein Bewußtsein gehabt, diese Kinder. Die haben nicht bewußt gelebt, bitte schön, so nehme ich das an.

Der 83jährige Wiener Arzt Heinrich Gross soll an der Euthanasieanstalt „Spiegelgrund“ an NS-Kindermorden beteiligt gewesen sein. Er bestreitet, im drohenden Mordprozeß sei er nicht verhandlungsfähig.

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