Interview mit NR Manfred Srb (Grüne)

Das Interview fand am 20.12.91 zu verschiedenen Themen statt. Die Fragen stellte Martin Ladstätter. Wir bringen hier den 2. Teil des Interviews.

Interview mit Mikrofon
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Hier können Sie den ersten Teil lesen.

Muskel Aktiv: Wie geht die Gesellschaft mit Behinderung um?

Srb: Die Bevölkerung reagiert halt mehrheitlich unsicher. Ich werfe das den Menschen gar nicht vor, weil solange behinderte Menschen ausgesondert werden, solange Nichtbehinderte mit Behinderten keine Erfahrungen sammeln können, wissen sie nicht, wie sie sich verhalten sollen. Daher sind sie unsicher. Das ist ja ein weiteres Argument, um behinderte Menschen nicht mehr länger auszusondern.

Muskel Aktiv: Behinderung und Partnerschaft?

Srb: Die Gesellschaft hält vielfach Behinderte für geschlechtslose Wesen. Das sind wir aber nicht. Ich meine, wir – behinderte Menschen – haben die gleichen Wünsche, die gleichen Sehnsüchte, die gleichen Ängste und Befürchtungen, die es im Bereich Partnerschaft gibt. Wir haben vor allem – und das halte ich für besonders wichtig – auch ein Recht auf Partnerschaft, wie immer die auch aussieht. Allenfalls etwas modifiziert, weil wir nicht der Norm entsprechen, muß ja die Partnerschaft auch nicht der üblichen Norm entsprechen.

Muskel Aktiv: Es ist jetzt schon viele Monate her, daß Du mit einigen anderen im Parlament einen Hungerstreik abgehalten hast. Das Thema Pflegegeld ist jetzt öffentlich bekannt, es gab eine Großdemonstration vor dem Finanzministerium mit über 1500 Anwesenden.

Es werden konkret Beträge für ein Pflegegeld diskutiert. Eine Versorgung in der Höhe des tatsächlichen Bedarfs wird es aber voraussichtlich nicht geben. Was ist wichtiger? Daß es nun eine Pflegegeld geben wird, oder das in ein paar Jahren eine Versorgung in der Höhe des tatsächlichen Bedarfs eingeführt wird?

Srb: Ich halte es für eminent wichtig, daß wir jetzt – bevor es noch zur Einführung eines Pflegegeldes kommt – versuchen, daß zu bekommen, was wir auch tatsächlich brauchen. Das heißt: In der Höhe des tatsächlichen Bedarfs. Wenn jetzt eine Schmalspurlösung kommen würde – und sehr vieles deutet leider darauf hin – , dann befürchte ich, daß sich erstens die Koalitionsparteien bzw. die Bundesregierung sich gegenseitig zu Tode loben, welche epochale Leistung sie erreicht haben und daß dann zweitens in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt wird, es wird ohnedies so viel für behinderte Menschen getan.

Dann wird es frühestens nach einigen Jahren – wenn überhaupt – zu einer Novellierung kommen, die wieder nicht den tatsächlichen Bedarfs beinhaltet. Das sind meine politischen Erfahrungen, daher diese Sichtweise. D. h. wir – alle Betroffenen und Engagierten – sind herausgefordert, daß wir uns dagegen wehren, daß wir Aktionen, Aktivitäten der verschiedensten Art machen. Jeder, was er sich zutraut und was er kann. Wir sind in einer Phase, wo wir wieder einmal unsere ganzen Kräfte, die ja leider oft nur sehr bescheiden sind, gemeinsam einsetzen müssen, um unser Ziel zu erreichen.

Muskel Aktiv: Erkläre bitte mit wenigen Worten das Anliegen bei der Pfleggelddiskussion.

Srb: Für mich geht es bei der Pflegegelddiskussion um folgende Situation: Menschen – die aufgrund einer Behinderung oder aufgrund ihres Alters – verschiedene Dinge des täglichen Lebens – des Alltags – nicht mehr alleine machen können (Stichwort: aufstehen, ankleiden, Schuhe binden, auf die Toilette gehen, Essen machen, aber auch Aktivitäten außer Haus: Arbeit, reisen, Urlaub – das ganze Spektrum, welches sogenannte nichtbehinderte Menschen ohne fremde Hilfe selber machen können), daß dieses Spektrum abgedeckt werden muß.

Wir Menschen, die wir von fremder Hilfe abhängig sind, nennen das – in der fortschrittlichen internationalen Behindertenbewegung – auch persönliche Assistenz. Wir haben – und dazu steh ich – ein Recht darauf, daß wir diese Hilfe bekommen. Eine Möglichkeit diese Hilfe zu bekommen ist, über ausreichende Gelder zu verfügen, um uns diese persönliche Hilfe, diese persönliche Assistenz bezahlen zu können.

Muskel Aktiv: Angenommen der Nationalrat hätte gestern das Pflegegeldgesetz mit 7 Stufen von S 2500,- bis S 20.000,- angenommen. Plötzlich herrscht Unruhe im Parlament. 50 Arbeiter haben einen Hungerstreik mit der Losung begonnen: „Wir arbeiten 40 Stunden und bekommen nur S 13.000,-„. Bei einem Gespräch mit den Arbeitern würdest Du welche Argumente verwenden?

Srb: Eines halte ich für einen zentralen Punkt in der gesamten Pflegegelddiskussion: Es muß klar dabei herauskommen, daß es hier nicht um Gelder geht, die man am Schädel haut oder sich was Schönes damit kauft oder für die Bestreitung des Alltags des Lebens (für Miete, für Autokosten), sondern, daß diese Ausgaben – diese Mehrkosten – überhaupt nur Menschen haben, die auf fremde Hilfe angewiesen sind und diese bezahlen müssen.

Wenn man fremde Hilfe nicht bezahlt, bekommt man sie nicht oder sie hat eine derart schlecht Qualität, daß sie nicht wirksam ist. Daher hat das Geld keine Zusatzfunktion, daß man sozusagen das monatliche Budget aufbessert, sondern das muß direkt in die Finanzierung bzw. die Bezahlung der persönlichen Hilfe bzw. persönliche Assistenz laufen.

Muskel Aktiv: Das heißt eigentlich: Pflegegeld müßte einkommensunabhängig sein, oder?

Srb: Pflegegeld muß natürlich einkommensunabhängig sein, weil sogenannte Nichtbehinderte haben diese Ausgaben ja auch nicht. Ich sehe nicht ein, warum behinderte Menschen wieder einmal diskriminiert und benachteiligt werden sollten. Wenn jemand arbeitet, warum soll ihm dann ab einer bestimmten Grenze – die erfahrungsgemäß ziemlich niedrig liegt – bereits ein reduziertes Pflegegeld ausbezahlt werden?

Ein zweiter Aspekt dazu ist der: Wir müssen endlich von diesem Fürsorgedenken wegkommen. Die Länder haben noch die Sozialhilfegesetze, Behindertengesetze. Die sind abhängig vom Einkommen. Auch bei der Notstandshilfe gibt es dieses Fürsorgedenken. Darum es ist es auch ganz wichtig, daß das Pflegegeld bundeseinheitlich ausbezahlt wird und nach dem Muster des Hilflosenzuschusses (oder der Kriegsopferversorgung oder anderer bestehender Leistungen) einkommensunabhängig geleitstet wird.

Muskel Aktiv: Damit werden sich die Arbeiter zufrieden geben?

Srb: Ich bin ein ewiger Optimist. Ich glaube an die Lernfähigkeit der Menschen und mache – im großen und ganzen – auch immer wieder gute Erfahrungen damit. Ich glaube, wenn man sachlich argumentiert, wenn man praktische persönliche Beispiele bringt, wenn es möglichst direkt Betroffene den Arbeiter sagen und erzählen, dann würden die das ganz bestimmt akzeptieren und natürlich auch verstehen.

Muskel Aktiv: Warst Du je in einer Behindertenschule? Wie sind Deine Erfahrungen damit?

Srb: Ich war in zwei Behindertenschulen. Einmal war es eine Volksschule und einmal war es eine Bundeshandelsschule. Meine persönlichen Erfahren waren die, daß ich – als ich in die Behindertenschule gekommen bin – aus meinem sozialen Umfeld herausgerissen wurde.

Meine wenigen Freundschaften, die ich mir nach dem Eintritt meiner Behinderung wiederum aufgebaut hatte, sind wieder in die Binsen gegangen sind, weil ich ja nicht mehr in dieser Schule war, sondern nun in die Behindertenschule ging und in dem damit verbundenen Internat war. Ich bin damit also wieder entwurzelt worden.

Muskel Aktiv: Welche Schlüsse ziehst Du aus Deiner persönlichen Erfahrung? Was würdest Du bezüglich Integration ändern, wenn Du Minister wärst?

Srb: Ich möchte zuerst einen Gedanken voraus-schicken. Für mich ist der Begriff Integration einer der verlogensten und perversesten Begriffe, die es überhaupt gibt. Zuerst sondert man behinderte Menschen aus, dann spricht man groß von Integration und macht die verschiedensten Bemühungen, die mit mehr – sehr oft auch weniger – Erfolg gekrönt sind, statt daß man hergeht und behinderte Menschen von Haus aus nicht aussondert.

Dann muß man sie nämlich nicht integrieren. Ich würde, wenn ich Unterrichtsminister wäre, alle Voraussetzungen schaffen, daß jedes behinderte Kind – wenn es die Eltern wollen – in eine sogenannte Regelschulklasse gehen kann. Das muß sich dann über den gesamten Bildungsweg erstrecken. Genau so muß es auch in der beruflichen Ausbildung sein und allen menschlichen Bereichen. Also: Keine Aussonderung, sondern Strukturen schaffen, die behinderte Menschen erst gleich gar nicht mehr aussondern (können).

Muskel Aktiv: Auch gegen den Willen der Lehrer?

Srb: Gegen den Willen eines Lehrers etwas zu machen, wäre ja dumm und unpädagogisch. Es gibt ja die Möglichkeit, daß man Lehrer in einer Diskussion von der Idee überzeugt bzw. es ihnen in Schulungen vermittelt. Aber natürlich, wenn ein Lehrer das nicht machen kann, sich nicht in der Lage sieht, dann wird sich sicher im großen schulischen Bereich eine andere Tätigkeit finden lassen. Also: Gegen den Willen des Lehrer soll nichts verordnet werden.

Muskel Aktiv: Bist Du dafür, daß Eltern darüber abstimmen können, ob ein behindertes Kind in den Klassenverband kommt?

Srb: Abstimmungen halte ich in diesem Fall für fatal. Mit Eltern die – jetzt noch – Vorurteile gegenüber behinderten Kinder haben, muß man sich zusammensetzen, mit denen muß man in Ruhe diskutieren, denen muß man die Ängste nehmen. Ich bin fest davon überzeugt, daß das möglich ist und durch die Praxis und das feed back ihrer eigenen Kinder werden sie dann sehen, wie schön das sein kann – gemeinsam mit ein, zwei, drei behinderten Kindern – in einer Integrationsklasse zu sein. Es gibt darüber auch schon sehr, sehr viele Berichte – praktische Erfahrungen und Studien. Auch aus vielen persönlichen Erzählungen ist mir das bekannt.

Muskel Aktiv: In der Volksschule funktioniert es teilweise sehr gut, das geistig und/oder körperlich behinderte Kinder integriert werden. In der Hauptschule und in der AHS funktioniert dies selten oder gar nicht. Warum ist das so? Sollte man es verstärkt versuchen oder sollte man es gar nicht versuchen?

Srb: Ich finde, man sollte es – wie in der Unter- stufe – auch in der Sekundarstufe versuchen. Es ist um einiges schwieriger, das ist bekannt. Nur glaube ich, es ist hier wirklich die Kreativität der Lehrkräfte, des ganzen schulischen Apparates, der Eltern gefordert. Hier muß man Möglichkeiten, Strukturen, Unterrichtsformen schaffen, die Leistungs- und Lernfähigkeit von sogenannten geistig behinderten Kindern benoten.

Die zwei, drei behinderten Kinder sind so zu integriert, daß den nichtbehinderten Kindern keinerlei Nachteil entsteht und sie sogar durch die Interaktion zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern eine zusätzliche Bereicherung erfahren.

Muskel Aktiv: Es wird immer wieder die Erhöhung der Ausgleichstaxe und die Erfüllung der Pflichtzahl gefordert. Wie hoch sollte die Ausgleichstaxe – Deiner Meinung nach – sein und findest Du, daß eine Pflichtanstellung von behinderten Menschen gut ist.

Srb: Erstens: Die Ausgleichstaxe müßte – meiner Meinung nach – in der tatsächlichen Höhe eines durchschnittlichen Kollektivvertragslohnes liegen.

Zweitens: Gerade die öffentliche Hand hat – meiner Meinung nach – alle Pflichten um behinderte Menschen – sogenannte begünstige Personen – einzustellen. Ich wäre sehr dafür, daß die öffentliche Hand keine Möglichkeit haben soll, sich von dieser Verpflichtung los zu kaufen, daß sie angehalten wird, alle Möglichkeiten aus-zuschöpfen, flexibel zu sein um behinderte Menschen einzustellen.

Muskel Aktiv: Ich danke Dir für das Interview.

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