Oftmals vermeint man in der Beurteilung "etwas sei verfassungswidrig" eine bloße plakative Drohung zu erblicken, doch die geplante Wiener Bauordungsnovelle dürfte dieses Prädikat offensichtlich wirklich verdienen.
Die Interessensvertretungen der Menschen mit Behinderungen haben stets darauf aufmerksam gemacht – siehe etwa die Resolution der Sehbehinderten- und Blindenorganisationen der Ostregion -, dass aus ihrer Sicht der derzeit vorliegende Wiener Bauordnungsnovellenentwurf der Staatszielbestimmung des Artikel 7 Abs. 1 vierter Satz – Bekenntnis zur Gleichbehandlung behinderter und nichtbehinderter Menschen – widerspricht und damit verfassungswidrig sei; doch wie sieht das nun wirklich aus?
Kurz zur Erinnerung:
Mit der Novelle BGBl. I Nr. 87/1997 wurde mit Wirkung ab 18. August 1997 dem Gleichheitssatz der Österreichischen Bundesverfassung in Artikel 7 Abs. 1 – „Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetz gleich.“ – neben dem Benachteiligungsverbot – „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ – auch ein Bekenntnis der Republik Österreich zur Gleichbehandlung behinderter und nichtbehinderter Menschen in Artikel 7 Abs. 1 vierter Satz B-VG hinzugefügt:
„Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten.“
Dieses Bekenntnis des Staates, also das Staatsziel, bezieht sich auf alle Menschen mit Behinderungen, unabhängig von der Art der Behinderung, und auf alle Lebensbereiche.
Das Staatsziel ist aber auch eine wichtige Ergänzung des Benachteiligungsverbotes. Das Staatsziel bringt zwar nicht unmittelbar ein subjektives Recht des Einzelnen auf Maßnahmen des Staates zur Verwirklichung der Gleichbehandlung – z. B. durch die Schaffung eines Behindertengleichstellungsgesetzes oder die Beseitigung behindertendiskriminierender Rechtsvorschriften -, es bindet aber in mehrfacher Weise den Staat, insbesondere den Gesetzgeber – wie in unserem Fall den Wiener Landtag – bei seinem Handeln:
- Der Gesetzgeber kann nicht frei darüber befinden, ob die Gleichbehandlung von behinderten Menschen im täglichen Leben ein rechtspolitisches Ziel ist.
Die Gleichbehandlung ist ein rechtspolitisches Ziel der Republik Österreich!
Der Gesetzgeber ist also damit laut Verfassung zwar nicht verpflichtet, aber doch politisch aufgefordert, Maßnahmen zur Gleichbehandlung behinderter Menschen zu setzen.
- Wird der Gesetzgeber wie in unserem Fall endlich tätig, so unterliegt sein gesetzgeberisches Handeln und die darauf beruhende Vollziehung durch die Behörden voll dem Maßstab des Benachteiligungsverbotes: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Und genau an diesem letzten Punkt hapert es beim vorliegenden Novellierungsentwurf zur Wiener Bauordnung.
Der Magistrat der Stadt Wien hat in dem Entwurf Maßnahmen vorgesehen, die barrierefreies Bauen in der Wiener Bauordnung verwirklichen sollen. Leider hat man dabei in unsachlicher Weise zwischen den verschiedenen Arten der Behinderungen differenziert und lediglich Maßnahmen für körperbehinderte Menschen vorgesehen. Diese Absicht hat man sogar noch damit verstärkt, dass man im Entwurf nicht von „behinderten“, sondern ständig von „körperbehinderten“ Menschen spricht.
Der Gesetzgeber hat damit, unter Missachtung des Staatszieles der Gleichbehandlung für alle Menschen mit Behinderungen, lediglich eine Maßnahme für körperbehinderte Menschen gesetzt und andere Behindertengruppen, wie etwa die sinnesbehinderten Menschen – hör- und sehbehinderte Menschen – bewusst ausgespart. Diese Maßnahme entspricht sohin schon nicht der Staatszielbestimmung; sie entspricht aber auch nicht dem Benachteiligungsverbot, das ja ein subjektives, beim Verfassungsgerichtshof durchsetzbares Recht, nicht wegen seiner Behinderung benachteiligt zu werden, ist. Die sinnesbehinderten Menschen würden durch ein solches Gesetz bereits unmittelbar in diesem verfassungsgesetzlich gewährleisteten subjektiven Recht verletzt, da so notwendige Maßnahmen, wie tastbare Bodenleitsysteme, Sprachausgaben und tastbare Beschriftungen in Aufzügen, ertastbare Gefahrenbereichsabsicherungen, kontrastierende Kennzeichnung großer Glasflächen usw., mangels einer gesetzlichen Pflicht wohl auch künftig bei Bauvorhaben in Wien so gut wie nicht eingeplant werden.
Sinnesbehinderte Menschen werden durch diese gesetzgeberische Maßnahme klar gegenüber körperbehinderten und nichtbehinderten Menschen benachteiligt; diese Benachteiligung kann wohl auch nicht durch gewichtige sachliche Gründe gerechtfertigt werden. Es liegt daher der Schluss nahe, dass es sich dabei um eine verfassungswidrige gesetzliche Maßnahme handeln dürfte.
Es bleibt also abzuwarten, ob der Appell der Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen an den Wiener Gemeinderat vom Juli 2003 Wirkung zeigen wird und dieser verfassungsrechtliche „Haxelsteller“ noch im letzten Moment durch eine Ergänzung des Entwurfs im Sinne der berechtigten Forderungen der Menschen mit Behinderungen saniert wird.