Noch immer ist es erwachsenen Menschen mit Behinderungen in Österreich weitestgehend verwehrt, selbst zu bestimmen, wie, wo und mit wem sie leben möchten.
Diesen Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention prangerte die Interessensvertretung sozialer Dienstleistungsunternehmen für Menschen mit Behinderungen, IVS Wien, am 2. März 2017, im Rahmen einer Pressekonferenz in Wien an.
Inklusion statt Institution forderten Behindertenanwalt Erwin Buchinger, die IVS-Vorstände Marion Ondricek und Wolfgang Waldmüller sowie die direkt Betroffenen Jürgen Vanek und Goran Zikic.
Aktuell findet eine zweitägige Tagung der IVS Wien statt, bei der rund 240 Teilnehmer/innen, darunter zahlreiche politische Vertreter/innen, internationale und österreichische innovative Best-Practice-Beispiele diskutieren. Mehr Information unter www.ivs-wien.at
Buchinger: Inklusion als Ziel
„Inklusion statt Institution ist ein Ziel, das auf allen Ebenen konsequent verfolgt werden muss“, so Behindertenanwalt Erwin Buchinger. Auch wenn es in den letzten vierzig Jahren bereits zu einer immer kleinräumigeren und gemeindenäheren Versorgung gekommen sei, sei die Entwicklung keinesfalls abgeschlossen.
IVS Wien fordert Politik und Anbieter auf, konkrete Schritte zu setzen
„Die freie Wahl ihres Aufenthaltsortes wird in Österreich tausenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern vorenthalten. Nicht weil sie eine Haftstrafe verbüßen, sondern weil sie eine Behinderung haben!“, sagte Wolfgang Waldmüller, Vorstand IVS Wien.
In der Regel könnten sich Menschen mit Behinderungen weder den Wohnort noch die Trägerorganisation oder die Betreuer/innen oder auch nur ihre Mitbewohner/innen aussuchen, so Waldmüller weiter.
Damit Menschen mit Behinderungen grundlegende Menschen- und Bürgerrechte nicht länger vorenthalten bleiben, forderte er im Namen der IVS Wien folgende Schritte:
- einen österreichweiten gesetzlichen Beschluss zur Auflösung aller Großeinrichtungen innerhalb von fünf Jahren,
- den forcierten Ausbau mobiler Angebote,
- die österreichweite Umsetzung der Persönlichen Assistenz bzw. des Persönlichen Budgets sowie
- ein neues Selbstverständnis der Anbieter von Betreuungsleistungen.
Weiters entscheidend: „Neun verschiedene Behinderten- und Chancengleichstellungsgesetze bauen zusätzliche Barrieren auf! Hier braucht es bundeseinheitliche Regelungen!“, so Waldmüller.
Betroffener Vanek: „musste mich in allen Belangen der Struktur anpassen“
Wie schwierig es ist, trotz Behinderungen selbstbestimmt zu leben, schilderte Jürgen Vanek. Der 43-jährige ist seit seiner Geburt körper- und sprachbehindert und hat eine spastische Lähmung. Er lebte mehrere Jahre institutionell betreut in Wohngemeinschaften.
„Ich war in einer WG, 11 Jahre lang, bis vor sechs Jahren. Es war ungut, weil ich dort keine freie Zeiteinteilung hatte. Ich musste mich in allen Belangen der Struktur anpassen und nicht umgekehrt“, so Vanek. Mit viel Ausdauer erreichte Vanek, dass er heute selbstbestimmt leben kann: Im Dezember 2010 bewilligte der Fonds Soziales Wien, FSW, nach einem Jahr seinen Antrag auf eine eigene Wohnung. 2011 wurde dann auch der zuerst abgelehnte Antrag auf Persönliche Assistenz gewährt.
Inklusion ist Frage der Haltung, nicht des Geldes
„Noch immer haben viele Menschen mit Behinderung behinderte Lebenslaufmuster“, so Marion Ondricek, Vorstand IVS Wien. Statt des Schaffens eines eigenen Zuhauses leben Menschen mit Behinderungen meist in institutionellen Wohnformen. Das führe zu eingeschränkten sozialen Kontakten.
Statt aktiver Partizipation am gesellschaftlichen Leben gebe es Angebote, die das Gegenteil bewirken: Heime, Behindertenwerkstätten, spezielle Freizeitprogramme, Sonderschulen und dergleichen mehr.
„Das Kostenargument sticht hier nicht, denn Tatsache ist: Das exklusiv Halten von behinderten Lebensmustern ist nicht billiger als Menschen mit Behinderungen das Leben in der Mitte der Gesellschaft zu ermöglichen. Inklusion ist eine Frage der Haltung, nicht des Geldes!“, betonte Ondricek.
Zikic: selbst organisiert und unabhängig
Einblick in sein Leben gewährte auch Goran Zikic, 50, der seit Geburt spastisch ist. Bis er 30 Jahre alt war, lebte er bei seinen Eltern. Danach wohnte er voll- sowie teilbetreut in institutionellen Angeboten. In der teilbetreuten Wohnung unterstützten ihn Mobile Dienste sowie das Team des sozialen Dienstleistungsunternehmens Balance. Doch ohne Persönliche Assistenz fehlte die Begleitung außerhalb der Wohnung.
„Ich habe mir gedacht, ich organisiere mich selbst in meiner eigenen Wohnung. Und deshalb habe ich mir selbst zugemutet, noch einmal umzuziehen. In die Wohnung, in der ich jetzt lebe“, sagte Zikic. Die Persönliche Assistenz organisiert er sich selbst. Dadurch ist er sehr unabhängig. „Ich nehme z.B. an Schachturnieren teil“, so Zikic.