IVS Wien und VertretungsNetz fordern Alternativen zur Sachwalterschaft

Selbstbestimmung statt Entmündigung: Gemeinsame Tagung in Wien mit 150 Teilnehmer/innen und internationalen Top-Referenten

Michael Bach
Berger, Alex

Im Rahmen eines heutigen Pressegesprächs in Wien präsentierte die „Interessensvertretung sozialer Dienstleistungsunternehmen für Menschen mit Behinderung“, kurz IVS Wien, gemeinsam mit dem Sachwalterschaftsverein VertretungsNetz die Ergebnisse einer gemeinsamen Fachtagung in Wien am 12. Mai 2014. Marion Ondricek, Vorstand IVS Wien, und Franziska Tuppa, Leiterin des Fachbereichs Sachwalterschaft bei VertretungsNetz, betonten, dass auch Menschen mit intellektueller Behinderung oder psychischen Erkrankungen ein Recht auf Selbstbestimmung haben.

Menschenrechtsexperte Michael Bach, Präsident der „Canadian Organisation for Community Living“, CACL, zeigte, wie unterstützte Entscheidungsfindung an Stelle einer Sachwalterschaft in Kanada funktioniert und was Österreich daraus lernen kann.

150 Entscheidungsträger/innen aus Politik, Wirtschaft und Sozialwirtschaft entwickeln bei Tagung neue Perspektiven

„Ich entscheide selbst“ – Alternativen zur Sachwalterschaft: Unter diesem Motto diskutierten am Montag, dem 12. Mai 2014, 150 Entscheidungsträger/innen aus Politik, Wirtschaft und Sozialwirtschaft im Kardinal-König-Haus in 1130 Wien über ein sensibles Thema, das immer wieder für Zündstoff sorgt.

Ziele der Tagung waren eine Vertiefung der Diskussion, wie die Umsetzung unterstützter Entscheidungsfindung und anderer selbstbestimmter Alternativmodelle zur Sachwalterschaft in Österreich gestaltet werden könnte. Anhand internationaler Erfolgsmodelle aus Kanada und Schweden wurden neue Perspektiven für Österreich entwickelt.


Vor Ort waren unter anderem Sektionschef Georg Kathrein, Bundesministerium für Justiz, Martin Ladstätter (BIZEPS und Monitoringausschuss), Hartwig Frank und Christine Horn von der Bank Austria, Gerhard Ruprecht, Social Banking Erste Bank, Vertreter politischer Parteien, zahlreiche Rechtsanwält/innen, Mitarbeiter/innen des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie Wien und Vertreter/innen des Fonds Soziales Wien sowie deutscher und österreichischer Sachwaltervereine und sozialer Dienstleistungsanbieter.

Top-Referenten waren Michael Bach aus Kanada, international anerkannter Menschenrechts-Experte, Soziologe und Präsident von CACL, einer kanadischen Organisation mit 40.000 Mitgliedern, die sich für die Inklusion von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung einsetzt, sowie Maths Jesperson aus Schweden, Initiator und Vorstandsmitglied von PO-Skåne, einem professionellen Service mit persönlichen Ombudsstellen für Menschen mit schweren psychosozialen Behinderungen. Jesperson fand als ehemaliger Psychiatrie-Insasse den Weg zurück in die Selbstbestimmung und ist Gründungsmitglied des Europäischen Netzwerks von (Ex-)Nutzern und Überlebenden der Psychiatrie (ENUSP).

Bach betonte, dass Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen die Geschäfts- und Handlungsfähigkeit keinesfalls abgesprochen werden darf, weil dies ein Menschenrecht für jeden von Geburt an ist. Jeder Mensch ist in der Lage, seinen Willen gegenüber anderen auszudrücken. Die Herausforderung sei, das Recht jedes Menschen auf freie Willensäußerung ins jeweilige Rechtssystem zu implementieren. Für Österreich erkenne er vielversprechende Ansätze, es sei aber noch ein langer Weg zu gehen.

Den wirtschaftlichen Nutzen alternativer Modelle zeigte Jesperson auf. „Jeder Euro, der in Schweden in einen persönlichen Ombudsmann investiert wird, spart dem Staat 17 Euro“, so Jesperson.

IVS übt Kritik: Durch Sachwalterschaft werden Menschen fremdbestimmt

„Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen haben, so wie alle Menschen, vielfältige Bedürfnisse und Vorstellungen, wie sie ihr Leben gestalten möchten. Die UN-Behindertenrechtskonvention, die 2008 in Kraft trat, verpflichtet Österreich dazu, alle Maßnahmen zu treffen, damit Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen können. Mit Sachwalterschaften werden diese Menschen jedoch fremdbestimmt. Gesellschaft und Politik sind gefordert, hier ein System zu schaffen, das weg geht von der Entmündigung von Menschen hin zur Unterstützung, eigene Entscheidungen zu treffen“, so Marion Ondricek, Vorstand IVS Wien.

Ein Skandal: 55% aller Sachwalterschaften „für alle Angelegenheiten“ ausgesprochen

Die Zahl der von Sachwalterschaft Betroffenen steigt seit Jahren und hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre in Österreich nahezu verdoppelt – von 34.000 Betroffenen im Jahr 2004 auf 60.000 Betroffene heute. Dies ist ein gravierendes menschenrechtliches Problem. „Sachwalterschaft sollte das letzte Mittel sein, wird aber oft vorschnell unreflektiert eingesetzt. Insbesondere die Tatsache, dass 55% aller Sachwalterschaften ‚für alle Angelegenheiten‘ ausgesprochen werden, ist in meinen Augen ein Skandal“, sagt Franziska Tuppa, Leiterin des Fachbereichs Sachwalterschaft bei VertretungsNetz.

Von ständiger Sachwalterschaft betroffen sind dabei keineswegs nur Ältere – 45% der Betroffenen sind jünger als 59 Jahre. VertretungsNetz fordert die ersatzlose Streichung der Sachwalterschaft für alle Angelegenheiten, eine Befristung von Sachwalterschaften auf maximal drei Jahre, um danach neuerlich die Notwendigkeit zu prüfen, sowie ein „verpflichtendes Clearing“.

„Unterstütze Entscheidungsfindung“ als Alternative zur Sachwalterschaft

Weltweit gibt es unterschiedliche Modelle der „unterstützen Entscheidungsfindung“. Allen gemeinsam ist, dass die rechtliche Handlungsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit der Person mit Unterstützungsbedarf nicht beeinträchtigt wird. Weiters kann die oder der Betroffene die Unterstützungsbeziehung jederzeit beenden. Der Willen bzw. die Intention der betroffenen Person muss bestmöglich ermittelt und beachtet werden und ist die Basis für eine informierte Entscheidung.

Österreichisches Modellprojekt „Clearing Plus – Unterstützung zur Selbstbestimmung“

Ausgehend von der UN-Behindertenrechtskonvention wird auch in Österreich versucht, zunehmend Sachwalterschaften durch Modelle „unterstützter Entscheidungsfindung“ zu ersetzen. VertretungsNetz hat dazu das Konzept „Clearing Plus – Unterstützung zur Selbstbestimmung“ erarbeitet. Das im März 2014 gestartete Projekt wurde vom Bundesministerium für Justiz unter dem Titel „Unterstützung zur Selbstbestimmung“ vorgestellt.

An 20 Gerichtsstandorten in Österreich wird nun von den Gerichten vor einer Sachwalterbestellung an die Clearingstelle verwiesen, um einzuschätzen, ob eine Sachwalterschaft, etwa durch Unterstützung durch Angehörige oder Sozialeinrichtungen, vermieden werden kann. Im Rahmen von Clearing Plus werden dann Betroffene über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet. Indem auf die persönlichen Stärken fokussiert und das soziale Umfeld aktiviert wird, können maßgeschneiderte Lösungen für Betroffene entwickelt und gefunden werden. Die Ergebnisse des Projektes sollen bei einer Reform des Sachwalterrechts ab 2016 berücksichtigt werden.

Bewusstseinswandel nötig

Die Verwirklichung von unterstützter Entscheidungsfindung erfordere jedenfalls eine gesamtgesellschaftliche Veränderung, da es noch an Problembewusstsein, insbesondere auch bei den politisch Verantwortlichen, fehle, so Ondricek.

Auch Bach spricht von der Herausforderung, eine „vision for change“ zu erschaffen, um die bestehenden Systeme strategisch so zu verändern, dass Menschen mit Behinderung ihren rechtmäßigen Platz als vollwertige Bürgerinnen und Bürger in der Gesellschaft einnehmen können.

Die UN Behindertenrechtskonvention

Die UN-Konvention ist ein internationaler Vertrag, in dem sich die Unterzeichnerstaaten – darunter Österreich – verpflichten, die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist in Österreich seit 26. Oktober 2008 in Kraft. Sowohl die Gesetzgebung als auch die Verwaltung und die Rechtsprechung müssen die Konvention beachten.

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