Jüdische Behinderte in Österreich während des Nationalsozialismus

Einer der traurigsten Aspekte der Verfolgung und Vernichtung des österreichischen Judentums während des Nationalsozialismus ist das der jüdischen Behinderten.

Sie waren neben der Gruppe der jüdischen Kleinkinder und der alten Menschen das schwächste Glied der Gesellschaft und wurden durch das NS-Regime in zweifacher Hinsicht bedroht.

Sie galten sowohl durch ihre jüdische Herkunft als auch durch ihre Behinderung als sogenanntes „unwertes Leben“ und wurden, soweit sie keine Möglichkeit zur Auswanderung hatten, ermordet. Durch ihre vielfältigen körperlichen Einschränkungen waren sie mehr als andere auf Hilfe von Nichtbehinderten angewiesen und konnten daher auch weit weniger als sogenannte U-Boote in die Illegalität flüchten.

Ich habe mich in meinem jüngst erschienen Bericht der Historikerkommission der Republik Österreich zum Thema „Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds, ‚Arisierung‘ und Restitution“ insbesondere mit den von jüdischen Vereinen und Stiftungen erhaltenen und von der israelitischen Kultusgemeinde subventionierten Einrichtungen für jüdische Behinderte und mit deren Organisationen beschäftigt.

Vorerst sei hier eine in Europa einzigartige Institution genannt, das Jüdische Blindeninstitut auf der Hohen Warte. Seit 1870 war diese für lange Zeit die einzige Einrichtung für jüdische junge Blinde und Sehbehinderte auf der Welt.

Blinde im Alter von 2 bis 24 Jahren hatten bis 1938 die Möglichkeit, sowohl extern als auch im Rahmen des Internats, Kindergarten und Schule zu besuchen, sowie eine Berufsausbildung in Bürstenbinden, Korbflechten, Stricken, Flechten, in Heilmassage und Klavierstimmen zu erwerben oder Übersetzer und Dolmetscher zu werden. Das Institut bot auch die Staatsprüfung im Musiklehramt. Es brachte zahlreiche Organisten und Musikprofessoren hervor.

Dem Blindenheim angeschlossen waren ab 1938 folgende Selbsthilfegruppen der jüdischen Behinderten: Die Selbsthilfegruppe der Blinden, die Selbsthilfegruppe der „Taubstummen“ und der „Krüppel“. Mit Beginn des NS-Regimes war das Blindenheim und deren Bewohner vielfältigen Repressalien ausgesetzt. Die Institution konnte zwar zunächst weiterexistieren, mußte aber seinen Namen in „Jüdische Blindenanstalt, Taubstummen und Krüppelhilfe Hohe Warte“ ändern.

Die Symbolik der erzwungenen Namensänderung hatte tragische Auswirkungen: Das jüdische Personal wurde entlassen, die Anstalt mußte ab 1940 auch alte Menschen mit diversen Einschränkungen aufnehmen und wurde damit immer mehr zu einem regelrechten Aufbewahrungsort für junge und alte jüdischen Behinderte, von wo sie 1942 in die Vernichtungslager deportiert wurden.

Erwachsene blinde, sehbehinderte oder gehörlose und hörbehinderte Juden und Jüdinnen, die durch Beschlagnahmungen von Wohnungen nicht mehr im häuslichen Umfeld bleiben konnten, wurden ebenfalls vermehrt im Israelitischen Blindeninstitut aufgenommen. Dort befanden sich am 1. Oktober 1941 117 Blinde im Alter von unter zehn bis über 80 Jahren, neben 27 Gehörlosen im Alter zwischen 21 und über 80 Jahren und fünf durch andere Gründe Behinderte im Alter von 21 bis 70 Jahren.

Die jüdischen Blinden, die nicht im Blindeninstitut lebten, versuchten im Rahmen der Selbsthilfegruppe, ihre Lage zu verbessern. Am 25. Februar 1941 schrieb ihr Vertreter anläßlich der ersten Deportationen an den Leiter der Israelitischen Kulturgemeinde, Josef Löwenherz, einen verzweifelten Bittbrief: „Es ist unleugbar, daß die Umsiedlung für jeden unserer Glaubensgenossen schwer tragbar ist. Aber es ist ebenso unleugbar, daß sie den Blinden um ein Vielfaches schwerer trifft. Der Blinde, aus seiner ihm bekannten Umgebung herausgenommen und in eine unbekannte verpflanzt, ist in des Wortes wahrster Bedeutung ein verlorener Mensch. Beim ersten Transport sind bereits drei Blinde abgegangen“.

Erwachsene Körperbehinderte, die mobil waren, konnten sich zunächst zumindest besser organisieren, indem sie durch die Gründung der „Selbsthilfegruppe jüdischer Krüppel“ auf sich aufmerksam machten. Diese hatte die Aufgabe, sich um Berufsumschichtungs- und Auswanderungsmöglichkeiten zu kümmern. Dennoch wurde die Lage auch dieser Gruppe durch die Streichung der Arbeitslosenunterstützung und die verminderten Arbeitsmöglichkeiten zunehmend schwieriger.

Der „Verband der jüdischen Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen in Wien“ bildete in diesem Bereich die dritte und weitaus mächtigste organisierte Interessensgruppe. Dieser mitgliederstarke Hilfsverband versuchte gemeinsam mit dem „Reichsbund deutscher Frontkämpfer“ unter Hinweis auf Kriegsverdienste durch zahlreiche Interventionen bei zuständigen Behörden in Berlin und sogar bei Hitler selbst, eine Verbesserung für deren Klientel zu erreichen.

Im Inland versuchte der Verband fieberhaft, Auswanderungsmöglichkeiten und Fürsorgeleistungen zu organisieren. Im Sinne der NS-Politik, das Potential der jüdischen Organisationen bis zum letzten Moment auszunutzen, war es diesem Verband erlaubt, seine Tätigkeit bis in das Jahr 1941 fortzusetzen. Noch im März 1941 fand auf Anweisung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung ein Obmannwechsel statt. Die Auflösung des Verbandes ist mit 1. Dezember 1942 datiert.

Ein besonderes Problem stellte jenes der bis 1939 in städtischen Heimen untergebrachten jüdischen geistig behinderten Kinder dar. Die Kinderübernahmsstelle der Stadt Wien wollte diese Kinder einfach loswerden und drängte die Kultusgemeinde im Sommer 1939 zur Übernahme der, wie sie sich ausdrückte, „mosaischen schwachsinnigen Kinder“. Die Kultusgemeinde wies ihrerseits auf das Fehlen entsprechender „Anstalten“ für solche Kinder in Österreich hin.

Eine solche „Jüdische Erziehungsanstalt“ gäbe es lediglich in Bielitz an der Mark, in Deutschland, wo die Unterbringung der österreichischen jüdischen Kinder zu teuer käme. Auf diese Weise wurden die Kinder ohne Bleibe hin- und hergeschoben und diese Problematik konnte auch später nicht wirklich gelöst werden. In einem Briefwechsel zwischen Amtsvorstand Engel und der Ärzteberatung der Kultusgemeinde wird ein Heim für geistig behinderte Kinder und Jugendliche in Wien 19., Langackergasse 12 beschrieben, indem zwei Drittel der Kinder jüdisch waren. Für weitere Kinder sollten „verbilligte“ Plätze geschaffen werden.

Ein interkonfessionelles Kinderheim wäre bereit gewesen, solche Kinder aufzunehmen, verlangte aber zu hohe Verpflegungsbeiträge. Das Ende des Leidensweges dieser Kinder war der Tod durch Deportation oder Euthanasie.

Die erwachsenen geistig behinderten oder psychisch kranken Juden wurden aus den nichtjüdischen Krankenanstalten, wie von der Landes- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“, ausgewiesen. Es wird angenommen, daß auch die jüdischen geistig und psychisch Behinderten, soweit sie nicht deportiert wurden, im Inland durch Euthanasie ermordet wurden.

Jonny Moser gibt diesbezüglich in seiner Studie zur Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs eine Zahl von 363 durch die Euthanasie ermordeten Juden an. Erst kürzlich aber sind laut Aussage des Leiters des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Dr. Wolfgang Neugebauer, Akten gefunden worden, die zusätzlich einige hundert jüdische Euthanasieopfer in der Heilanstalt Ybbs a.d. Donau belegen würden.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich