Justizskandal in Wien: Ministerin gefordert

In einem Schwurprozess am Wiener Landesgericht sorgte ein Sachverständiger mit seinen Ausführungen, die gehörlose Menschen als Gruppe diskriminierten, für helle Aufregung.

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Schockierende Aussagen, abstoßende Zitate und die Diskriminierung einer gesamten Personengruppe durch einen Sachverständigen in einem Schwurprozess, könnten ein Nachspiel haben.

Der Prozess: Reinhard K. und Thomas S. hatten am 22. Februar 2004 Martin P. in seiner Wohnung in Wien, mit einem Hammer und einem Messer lebensgefährlich verletzt und standen einer Anklage wegen versuchten Mordes gegenüber. Als Motiv wurde genannt, dass Martin P. verbreitet haben soll, dass Reinhard K. und Thomas S. ein sexuelles Verhältnis haben. Sowohl das Opfer als auch die Täter sind gehörlos.

Für die Aufregung sorgte jedoch der gerichtlich beeidete psychologische Sachverständige Wolfgang Friedl mit seinem Gutachten, denn er stellte bedenkliche und diskriminierende Zusammenhänge zwischen der Gehörlosigkeit der Täter und des Opfers und dem Verbrechen dar. Die Angeklagten seien seiner Meinung nach „emotional auf der Entwicklungsstufe von Kleinkindern und daher an der Grenze der Strafunmündigkeit“.

Er attestierte „starke Defizite im Sinne einer Persönlichkeitsstörung besonders in sozialer Dimension“, obwohl er selbst noch nie mit hörbehinderten Menschen zu tun hatte.

In seinen Ausführungen berief er sich auf Literatur, die zwischen 30 und 40 Jahre alt ist und zitierte zusätzlich ausführlich einen Bericht aus dem Jahr 1914 (!). Verschiedene Tageszeitungen – wie z.B. der Standard oder der Kurier – berichteten über seine wiedergegebenen Zitate übereinstimmend so: „Die Taubstummen gehören zu den geschwätzigsten und verleumderischsten Menschen […], und häufig sind die Taubstummenvereine Brutstätten dieser Bakterien.“

„Oft wird auch die geringe Intelligenz als Zusatzbehinderung angeführt. In den seltensten Fällen wird ein IQ von 100 erreicht. Angesichts ihrer Behinderung ist die Delinquenz der Gehörlosen erstaunlich gering“, resümiert Friedl.

Diese und ähnliche Aussagen riefen Empörung hervor. Der Anwalt des Opfers warf Friedl vor: „Sie sagen nichts anderes als: Alle Gehörlosen sind deppert und schwer gestört“, das sei „schwer diskriminierend“ so der Anwalt.

Einer von diesen Vorfällen Kenntnis erlangender und im Behindertenbereich versierter Journalist, sprach von einem „schier unglaublichen Gutachten“ und erinnerte in diesem Zusammenhang an den NS-Arzt und ebenfalls bis vor wenigen Jahren tätigen Gutachter Dr. Heinrich Gross.

„Dieser Herr hat überhaupt keine Ahnung“
„Ich finde diese Darstellung des Gutachters äußerst diskriminierend, weil sie ein Bild von Gehörlosen zeichnet, das besagt: die sind so primitiv oder so anders, dass sie sich sogar wegen kleiner Streitereien umbringen“, zeigt sich Mag. Helene Jarmer, die Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes, in einem BIZEPS-INFO Interview verärgert und gekränkt.

„Es stimmt, dass manchmal gehörlose Menschen als Folge mangelnder Kontakte und Isolation Folgebehinderungen und Eigenheiten entwickeln. Aber wenn jemand behauptet, dass alle 6 Millionen gehörlosen Menschen auf der Welt zurückgeblieben und minder intelligent sind, dann kann das wohl nur als grobe, diskriminierende Stereotypisierung verstanden werden“, erläutert Jarmer.

„Es gibt abertausende Bücher von und über Gehörlose“ veranschaulicht Jarmer und fügt hinzu: „Dass ein Werk aus dem Jahr 1914 von einem Gutachter als Quelle herangezogen wurde, lässt nur darauf schließen, dass dieser Herr überhaupt keine Ahnung über unsere Gemeinschaft hat“.

Anfrage an Justizministerin angekündigt
Die Behindertensprecherin der GRÜNEN, Theresia Haidlmayr, kritisiert, dass „noch immer nicht gelernt wurde behinderten Menschen gegenüber korrekt aufzutreten“ und fühlt sich in Zeiten zurückversetzt, „die eigentlich der Vergangenheit angehören sollten“.

Sie kündigt für die nächsten Tage eine Anfrage an Justizministerin Mag. Karin Miklautsch (FPÖ) an, denn sie möchte wissen, welchen Wert diese Art von Feststellungen für ein Strafverfahren haben und ob und in welcher Art die Ministerin glaubt, dass solche Feststellungen ein Strafverfahren beeinflussen können.

Weiters möchte Haidlmayr von Miklautsch wissen, ob Sie mit dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien diesen Vorfall besprechen wird und „ob es möglich ist den Gutachter Friedl von der Gutachterliste zu streichen“.

Presseagentur spricht von „Gehörlosen-Milieu“
Über den Ausgang des Prozesses berichtete die Österreichische Presseagentur APA am 21. Jänner 2004 folgendermaßen: „Mit langjährigen Haftstrafen für die beiden Angeklagten ist am Freitagnachmittag im Wiener Landesgericht der Prozess um einen versuchten Mord im Gehörlosen-Milieu zu Ende gegangen.“

Beim ersten Lesen der Formulierung „Gehörlosen-Milieu“ hat es Mag. Michaela Braunreiter, sehbehinderte Journalistin, fast die Sprache verschlagen.

Über die Verwendung des Wortes „Milieu“ zeigt sich die Journalistin und Mitarbeiterin des Vereins MAIN (Plattform für integrative und barrierefreie Medien- und Kulturarbeit) verärgert: „Von Gehörlosen-Milieu zu sprechen ist absolut unkorrekt und unangebracht, denn den Leserinnen und Lesern wird mit dem heute negativ besetzten Wort Milieu vermittelt, dass gehörlose Personen als Gruppe in kriminelle Handlungen verwickelt sein könnten.“

„Es ist unverantwortlich, in Medienberichten, von denen sich Leserinnen und Lesern Objektivität erwarten, so mit Worten und Menschen umzugehen“, hält Braunreiter im BIZEPS-INFO Interview erzürnt fest, denn „einigen von ihnen wird ein bitterer Nachgeschmack bleiben, der auftaucht, wenn sie gehörlosen Menschen begegnen“.

„Wenn Medien solche Aussagen verbreiten, kann dies das Image einer ganzen Personengruppe ins negative Licht rücken“, befürchtet Braunreiter.

Nicht umsonst steht im Ehrenkodex für die österreichische Presse: „Jede Diskriminierung aus rassischen, religiösen, nationalen oder sonstigen Beweggründen ist unzulässig.“

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