TV-Geräte mit unterschiedlichen Sendern

Kaum zu glauben

Behinderte Menschen sind im Boulevard-Fernsehen häufiger präsent als allgemein wahrgenommen.

Das fand Rehabilitationswissenschaftler Ingo Bosse von der Universität Dortmund bei seiner Dissertation heraus. Wie die Uni vergangene Woche mitteilte, analysierte Bosse ein Jahr lang die Magazin-Sendungen „Brisant“ (ARD), „Explosiv“ (RTL) und „taff.“ (Pro Sieben). Sein erstaunlichen Ergebnis: In etwa 70 Prozent der Sendungen sind Behinderte präsent, an vier von fünf Sendetagen wird über Behinderte berichtet. Obwohl die „traditionelle“ Sichtweise von Behinderung als körperliche Beeinträchtigung bei den Beiträgen überwiegt, spielen nach Ansicht Bosses Ansätze zu einer modernen Sichtweise auf das soziale Konstrukt Behinderung im Sinne einer gleichberechtigten Teilhabe eine nicht unbedeutende Rolle.

Neben der häufigen Präsenz kann Bosse die Frage der Beteiligung von Behinderten ebenfalls positiv beantworten: „Es findet eine Berichterstattung mit ihnen und nicht über sie statt. Sie sind mit rund 30 Prozent die größte Gruppe der dominanten Aussage- und Handlungsträger.“ Ein Großteil der Berichterstattung bestehe zwar aus Beiträgen über Behinderte als „Heilungsbedürftige“ oder als reine „Empfänger von Hilfen“. Daneben existierten aber zahlreiche Beiträge, die Behinderte als „Experten in eigener Sache“ zeigen, die selbstbestimmt und gleichberechtigt an den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Systemen mitwirken.

„Die Gleichstellung behinderter Menschen ist zum Teil bereits vollzogen und findet sich im Leitmedium Fernsehen wieder. Damit bietet diese Sozialisationsinstanz dem Teilhabegedanken entsprechende Identifikationsangebote“, so Bosse. Den Fernsehzuschauern, die sich an medialen Darstellungen orientieren, würden alternative Vorstellungen zu traditionellen Rollenzuweisungen geboten. „Es werden Anstöße geliefert, die eigenen sozialen Reaktionen zu hinterfragen.“

Stärkster Auswahlfaktor auf journalistischer Seite sei Sensationalismus. Relevant sei ein Thema auch, wenn es von Schaden, Kriminalität oder Ethnozentrismus handelt. Häufig aufgegriffene Aspekte im Bereich des größten Einzelthemas Medizin seien Rehabilitation und Therapie. Defizite in der Berichterstattung stellt Bosse beim Thema Liebe und Sexualität Behinderter fest. Auch über Arbeitslosigkeit werde nicht berichtet, obwohl sie für diesen Personenkreis besonders relevant sei.

Bosse empfiehlt Journalisten, Menschen mit Behinderung im Sinne einer gleichberechtigten Teilhabe im Fernsehen selbstverständlich in das allgemeine Programm zu integrieren und in allen möglichen thematischen Zusammenhängen über sie zu berichten. „Eine Behinderung sollte nur thematisiert werden, wenn sie für die Berichterstattung relevant ist. Warum sollten Menschen mit Behinderung nicht auch bei Straßenumfragen zu den Neuwahlen, bei Diskussionen über die Terrorgefahr in Europa oder in Unterhaltungsformaten vorkommen?“

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