Kein Wahlrecht der Eltern auf schulische Segregation

Das ist die Kernbotschaft des allgemeinen Kommentars Nr. 4 zur UN-Behindertenrechtskonvention, der am 2. September 2016 vom UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf veröffentlicht wurde.

Flagge Deutschland
Trine Juel/Flickr

Darin werden die staatlichen Verpflichtungen zur Umsetzung von Artikel 24 der Menschenrechtskonvention verbindlich normiert, an dem sich auch das bestehende deutsche Bildungssystem messen lassen muss.  

Normative Kernaussagen des „General Comment“ 

Der in englischer Sprache verfasste umfangreiche „General Comment“ stellt inklusive Bildung als ein Menschenrecht für alle heraus, das auch für Menschen mit Behinderungen auf allen Stufen des Bildungssystems gilt. Inklusive Bildung schließt ausdrücklich das Recht auf Nicht-Segregation, Nicht-Diskriminierung und Chancengleichheit ein. Inklusive Bildung ist das Recht des Kindes. Die Eltern haben sich in der Wahrnehmung ihrer Verantwortung an dem Recht des Kindes auszurichten. 

Damit alle Lernenden in ihrer Unterschiedlichkeit erreicht werden und alle gleiche Rechte, Würde, Anerkennung und das Gefühl der Zugehörigkeit in einer lernfreundlichen, unterstützenden und qualitativ hochwertigen Lerngemeinschaft genießen, erfordert inklusive Bildung eine systemische Veränderung, z.B. der Strukturen, der Organisation, des Curriculums, der Lehr- und Lernstrategien, der Aufgaben- und Leistungskultur, der Professionalisierung des Personals, der Lernumgebung. Der angemessenen Ausstattung für Menschen mit Behinderungen muss dabei höchste Priorität eingeräumt werden. 

Diese Entwicklung muss einem regelmäßigen Monitoring- und Evaluationsprozess unterzogen werden, um Formen der Segregation oder Integration, die eine inklusive Entwicklung behindern, aufzudecken und die Qualität der Angebote zu überprüfen. Zur vollen Realisierung eines inklusiven Bildungssystems ist es notwendig, so zügig wie möglich alle verfügbaren Ressourcen einzusetzen. Das Nebeneinander von zwei Systemen, einem segregierten Sonderschulsystem und einem Regelschulsystem, ist damit nicht vereinbar. 

Deutsche Verhältnisse 

Seit dem Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention im März 2009 unterläuft die Kultusministerkonferenz (KMK) und mit ihr die Bildungspolitik in den Ländern die Konvention in mehrfacher Weise. Das Recht auf inklusive Bildung für alle wird ausschließlich auf Menschen mit Behinderungen bezogen und der individuelle Rechtsanspruch des Kindes mit Behinderungen auf inklusive Bildung wird zu einem Recht seiner Eltern verfälscht, zwischen Sonderschule und allgemeiner Schule zu wählen.

So lässt sich zwar ein besonders teures sonderpädagogisches Doppelsystem politisch legitimieren, aber die personelle Ausstattung der allgemeinen Schulen für eine qualitativ hochwertige inklusive Entwicklung ist damit nicht gewährleistet. 

Empirische Daten zeigen, dass sich das segregierte Sonderschulsystem trotz steigender Inklusionsquoten unter dieser Voraussetzung bestens hält: Die Segregationsquoten bleiben stabil, denn der Anstieg der Inklusionsquoten geht eben nicht mit dem Abbau von Sonderschulen einher. Stattdessen werden mit Hilfe der sonderpädagogischen Diagnostik immer mehr Grundschulkinder durch die Attestierung von sonderpädagogischem Förderbedarf zu „Inklusionskindern“.

Da der notwendige Ressourcentransfer aus den Sonderschulen in die allgemeinen Schulen ausbleibt, sehen insbesondere Eltern von Kindern mit erhöhtem Förderbedarf in der allgemeinen Schule keine Alternative zur Sonderschule.   

Soziale Segregation im allgemeinen Schulsystem 

Auch das gegliederte allgemeine Schulsystem wird bei dieser Auslegung von inklusiver Bildung weder in seinem Bestand noch in seiner sozialen Selektions- und Segregationsfunktion grundsätzlich in Frage gestellt. Durch die gängige Praxis, die integrierten Schulen oder die Hauptschulen, sofern sie noch existieren, zu Orten des gemeinsamen Lernens zu machen, bleiben die Gymnasien von der Verpflichtung ausgenommen, sich mit Inklusion auseinanderzusetzen und sich weiterzuentwickeln. 

Die Entwicklung seit 2009 belegt, dass die bildungspolitische Konzeption von inklusiver Bildung dem Zweck dient, das bestehende System mit seinen etablierten Strukturen, Institutionen und Überzeugungen weitgehend aufrechtzuerhalten. Zu den Überzeugungen gehört die Vorstellung, dass Kinder am besten in leistungshomogenen Gruppen lernen und gefördert werden können. Dass sich diese Überzeugung trotz gegenteiliger Ergebnisse aus Forschung und pädagogischer Praxis gesellschaftlich hartnäckig hält, liegt nachweislich an der Tatsache, dass die mit der Leistungshomogenisierung verbundene soziale Segregation der Privilegierung von Bildungsansprüchen der sozialen Mitte nutzt.  

Politische Reaktionen 

Während die Kritik des UN-Fachausschusses an der Konventionsumsetzung anlässlich der Staatenprüfung Deutschlands der KMK keine Reaktion wert war, sah sie sich durch den Entwurf des „General Comment“ erstmals ernsthaft herausgefordert. In der als „German Statement“ überschriebenen Stellungnahme an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, die bis heute nicht offiziell bekannt gemacht worden ist und keine Unterschrift trägt, schwang sie sich Anfang 2016 in Kooperation mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur Verteidigung des deutschen Sonderschulsystems auf.

Das deutsche Bildungssystem sei auf dem natürlichen Recht der Eltern aufgebaut, über Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu entscheiden. Das sei grundgesetzlich verbrieft. Mit dem Recht der Eltern, zwischen Sonderschule und allgemeiner Schule zu entscheiden, würden die Prinzipien der Verfassung erfüllt. Von Segregation könne nur dann gesprochen werden, wenn gegen den Willen von Eltern die Separierung erfolge. Im Übrigen wurde als Beweis für die erfolgreiche Inklusionsentwicklung auf den kontinuierlichen Anstieg der Zahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen verwiesen. 

Der Verein „Politik gegen Aussonderung – Koalition für Integration und Inklusion“, eine deutschlandweite Nicht-Regierungsorganisation, die sich für die Förderung der Integration und Inklusion beeinträchtigter, behinderter und benachteiligter Menschen in allen Lebensbereichen einsetzt, schickte dazu ein Gegenstatement an die Adresse des Fachausschusses.

Die Stellungnahme wurde unterstützt von zahlreichen Inklusionsforscherinnen und -forschern. Nachdrücklich wurde darin der Rechtsauffassung der KMK von inklusiver Bildung widersprochen, da sie auf „grundlegenden menschenrechtlichen Fehleinschätzungen“ beruhe. Die Darstellung der Inklusionsentwicklung seitens der KMK wurde korrigiert und eine grundlegende konventionskonforme Überarbeitung der Länderkonzepte gefordert.    

Wie weiter? 

Nun ist der „General Comment“ verabschiedet. Die deutsche Position und die deutschen Verhältnisse stehen dazu in einem scharfen Gegensatz. Dass die KMK den Kommentar von sich aus der deutschen Öffentlichkeit zugänglich macht, ist nicht zu erwarten. Eine amtliche deutschsprachige Übersetzung unter Beteiligung der Monitoringstelle am Deutschen Institut für Menschenrechte zügig zu erstellen und für deren politische Verbreitung zu sorgen, muss die allererste Forderung an die Bundesregierung sein. Das wäre die notwendige Voraussetzung für einen öffentlichen Diskussionsprozess mit dem Ziel, einen bildungs- und gesellschaftspolitischen Kurswechsel zugunsten des menschenrechtsbasierten Modells von inklusiver Bildung vorzubereiten und die Inklusion zu retten.

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2 Kommentare

  • Es ist unglaublich, wie auf die gewohnt ademokratische Weise allen anderen Meinungen das Recht auf Legitimität abgesprochen wird – man wähnt sich bisweilen in einer Inklusionsdiktatur! Die Träumerei von einer inklusiven Schule ist so lange nett, so lange sie nicht mit konkreten Fallbeispielen untermauert werden muss: ich möchte wirklich sehen, wie man jenen Umfang an Materialien an jeder einzelnen Schule bereit stellen kann, wie er zB am Bundes-Blindeninstitut vorhanden ist, wenn man bedenkt, dass zB allein eine Braillezeile über 10.000 € kostet, und ein Glas Cola reicht, um sie außer Gefächt zu setzen. Wo kommt dann ein Ersatzgerät her, wer kommt für die Reinigungskosten auf? Darauf möchte ich von all jenen träumerischen „Bildungsexperten“ eine detaillierte Antwort hören, die sich nicht in allgemeinen Floskeln ergeht oder auf die „tollen Projekte von Licht für die Welt in Burkina Faso“ verweist, wo Blinde Menschen angeblich besser inkludiert sein sollen als bei uns! (siehe: Protokoll des öffentlichen Monitoring-Ausschusses vom 30.10.2014, nachzulesen unter: http://monitoringausschuss.at/download/oeffentliche-sitzungen/politische-partizipation/MA_PR_2014_10_30_oeffentliche_sitzung.pdf). Überdies: gerade für blinde Menschen, und als Solcher schreibe ich diesen Kommentar, ist eine zeitweilige Segregation von großem Vorteil, da sie so nicht das schwächste Glied der Gruppe, sondern Gleiche unter Gleichen sind. Für gewisse Dinge benötigen sie einfach mehr Zeit und/oder spezifische Förderung. Ab einem gewissen Alter können sie ohnehin integriert oder im besten Falle inkludiert werden.
    Mit den Verhältnissen in Deutschland kenne ich mich nicht gut aus, allerdings brauchen sich Befürworter von Spezial- und Sonderschulen sowie von differenzierten Schulen im Allgemeinen nicht verstecken!