Kinder und Jugendliche auf Psychopharmaka: eine verhängnisvolle Mischung

Wenn junge Menschen dauerhaft Medikamente bekommen, wird deren Notwendigkeit nur selten hinterfragt.

Medikamente
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Michael ist 14 Jahre alt und lebt in einer betreuten Wohngemeinschaft. Seit seinem Einzug ist er immer wieder Freiheitsbeschränkungen ausgesetzt, wobei er sehr regelmäßig mit einer Übermacht von BetreuerInnen, die ihn festhalten, konfrontiert ist. Außerdem erhält er seit vier Jahren eine Dauermedikation von Psychopharmaka in unterschiedlichen Dosierungen und Kombinationen.

Als die Bewohnervertretung das erste Mal auf Michael traf, sahen sie einen jungen Mann, dessen Körperhaltung schlaff und Bewegungen verlangsamt wirkten. Ein junger übergewichtiger Mensch, der nur sehr undeutlich sprach und bei körperlicher Bewegung zitterte. „Wir vermuteten eine Beeinträchtigung durch die Medikamente, die Michael nehmen musste“, erklärt Rosalinde Pimon, Bereichsleiterin der Bewohnervertretung in Oberösterreich.

Psychopharmaka keine Seltenheit

Dass junge Menschen Psychopharmaka verabreicht bekommen, ist gar nicht so selten. Das zeigt sich auch bei den Meldungen der Kinder- und Jugendeinrichtungen an die Bewohnervertretung seit dem 1. Juli. „Mehr als die Hälfte der 600 bisher eingegangenen Meldungen betreffen Medikamente, und das ist erst der Anfang. Wir rechnen noch mit einem Vielfachen davon“, zeigt sich Susanne Jaquemar, Fachbereichsleiterin Bewohnervertretung, besorgt.

Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen werfen eine Reihe von Fragen auf. Das beginnt z.B. mit der Tatsache, dass es nur sehr wenige Medikamente gibt, die tatsächlich für unter 18-Jährige zugelassen sind. Es gibt kaum wissenschaftliche Erfahrungswerte, was Nebenwirkungen und Langzeitfolgen betrifft.

„Psychopharmaka sollten immer Teil eines Therapieplans sein und überwiegend als Unterstützung für andere Therapien dienen“, erklärt Rosalinde Pimon. „Wir erleben jedoch oft, dass Medikament um Medikament verabreicht wird, ohne dass ein konkretes Therapieziel erreicht wird. Es werden nur unangenehme Verhaltensweisen unterdrückt, mit der Konsequenz, dass die sedierende Wirkung des Medikaments im Vordergrund steht.“

Freiheitsbeschränkung durch Psychopharmaka

Solchen Umständen geht die Bewohnervertretung intensiv nach. Denn stehen zum Beispiel die dämpfende Wirkung, das Ruhigstellen oder die Unterbindung des Bewegungsdrangs einer Bewohnerin oder eines Bewohners im Vordergrund der Medikamentenverabreichung, dann handelt es sich um eine sogenannte Freiheitsbeschränkung durch Medikation.
„Für Michael haben wir eine gerichtliche Überprüfung anregt“, erzählt Pimon. Im folgenden Verfahren stellte ein gerichtlicher Sachverständiger fest, dass die Psychopharmakatherapie sinnlos sei, weil sie keinen Effekt zeige. Denn trotz der stetig erhöhten Dosierung des Medikaments, setzten sich die Verhaltensstörungen immer stärker durch.

Weitere Folgen

Die Bewohnervertretung ist in ihrer Arbeit auf den Aspekt der Freiheitsbeschränkung fokussiert. Sie sieht dabei auch, was die Folgen einer langjährigen, kombinierten Psychopharmakatherapie für junge Menschen bedeuten. „Fettleibigkeit, Brustwachstum bei Burschen und verzögertes Einsetzen der Pubertät sind Nebeneffekte, die auftreten können“, berichtet Rosalinde Pimon aus der Praxis.

Zukunftschancen sichern

„Wir nehmen den Tag der Kinderrechte zum Anlass, um auf dieses sensible Thema, das uns in der Vertretungsarbeit beschäftigt, aufmerksam zu machen“, erläutert Fachbereichsleiterin Susanne Jaquemar. „Gerade fremduntergebrachte Kinder brauchen eine unabhängige Institution, die für ihre Rechte sehr konsequent eintritt. Als Bewohnervertretung machen wir genau das.“

Die Arbeit der Bewohnervertretung trägt dazu bei, dass insbesondere Psychopharmaka auf ihre Notwendigkeit und Dosierung hinterfragt werden. Das führt mitunter dazu, dass alternative Therapiemöglichkeiten erprobt werden und sich so die Lebensqualität von jungen Menschen wie Michael deutlich verbessert.

„Wir fordern einen sensibleren und wachsameren Umgang von Ärztinnen und Ärzten sowie pädagogischem Personal beim Einsatz von Psychopharmakatherapien bei Kindern und Jugendlichen. Denn es geht hier darum, Zukunftschancen für junge Menschen sicherzustellen – unabhängig von einer möglichen Beeinträchtigung“, so Susanne Jaquemar abschließend.

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3 Kommentare

  • gut, dass dieses thema zumindest in der fremdunterbringung aufmerksamkeit findet. für meinen sohn hätte ich mir gewünscht, während seiner schulzeit gehör damit zu finden. um einen schulbesuch zu ermöglichen war auch plötzlich der arzt dafür meinem sohn risperidon zu verordnen. da dieses medikament nicht die gewünschte wirkung zeigte, setzte ich es ab und mein sohn wurde vom schulunterricht freigestellt. ich war chancenlos, seitens der schule eine veränderung ihrer umgangsweise mit der behinderung meines sohnes zu erwirken.

  • Ein sehr interessanter Artikel, der einige Fragen aufwirft:

    Wie werden diese Medikamente verabreicht?
    Wie sieht es mit Psychotherapie für Michael aus?

    Generell wird für die psychische Gesundheit in Österreich zu wenig geboten.
    Es kommt zu immer mehr Krankenständen wegen psychischer Belastungen.

    Für Kinder und Jugendliche ist die Versorgung in Österreich besonders schlecht. Für psychiatrische Behandlungen müssen oft zu lange Wartezeiten in Kauf genommen werden.
    Fachkräfte mit Schwerpunkt Psychotherapie für Kinder und Jugendliche sind ebenfalls stark ausgelastet. Es gibt eigene Ausbildungen und Listen:

    https://www.sozialministerium.at/site/Gesundheit/Medizin_und_Berufe/Berufe/Weiterbildung_im_Bereich_Kinder-_und_Jugendlichenpsychotherapie

    Grundsätzlich sind Psychopharmaka nicht als Dauerlösung zu verstehen.
    Auch bei Erwachsenen gilt Vorsicht. Oft haben Psychopharmaka unerwünschte Nebenwirkungen.

    Viel Erfolgt, Bewohnervertretung! Kinderrechte sind Menschenrechte!

  • Vielen Dank für dieses Update zum neuen Wirkbereich der HeimAufG. Und vielen Dank, dass dieser Beitrag gerade auch im Kontext von Kinderrechten platziert wurde. Kinder mit Behinderungen und / oder psychischen Erkrankungen stehen hierzulande immer noch allzu sehr im Abseits des öffentlichen Bewusstseins. Dass die BewohnerInnenvertrag seit 1. Juli bereits 600 Meldungen über Freiheitsbeschränkungen an behinderten Kindern in Einrichtungen erhalten hat, zeigt einmal mehr, wie wichtig die Novellierung des HeimAufG war.

    Ich nütze die Gelegenheit, um auf die Öffentliche Sitzung des Bundes- und des Tiroler Monitoringausschusses zum Thema Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen hinzuweisen, die am 27.11. Innsbruck stattfindet. Nähere Infos gibt es hier:
    https://www.tirol.gv.at/gesellschaft-soziales/gleichbehandlung-antidiskriminierung/tiroler-monitoring-ausschuss/aktuelles-und-informationen/