Kommentar der anderen: Schildbürgerstreiche beim Pflegegeld nicht gefragt

von Franz-Joseph Huainigg (Der Autor ist Medienpädagoge und Nationalratsabgeordneter der ÖVP.)

Franz-Joseph Huainigg
Christian Müller

Dr. Franz Joseph Huainigg schreibt einen Kommentar im „Der Standard“:

Zur Gewerkschaftsforderung, die Betreuung von Pflegebedürftigen flächendeckend mit diplomiertem Gesundheits- und Krankenpflegepersonal durchzuführen.

So wie einst die Schildbürger die glorreiche Idee hatten, das im Überfluss vorhandene Sonnenlicht in Fässer zu packen, um damit das fensterlose Haus von innen zu beleuchten, hatte auch Johann Hable, der Vorsitzende der Bundessektion Landesanstalten und Betriebe in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, eine fast ebenso gute Idee: Er schlug eine flächendeckende Betreuung durch diplomiertes Gesundheits- und Krankenpflegepersonal vor.

Kostenexplosion
Schildbürgerliche Züge hat dieser Vorschlag deshalb, weil erstens die Einführung eines Sachleistungssystems zu einer Kostenexplosion führen würde. Derzeit betragen die Aufwendungen für das Pflegegeld 1,5 Mrd. Euro. Werden durch die Umstellung auf Sachleistungen die Pflegeleistungen sozialversicherungspflichtig, würde es zu einer wahren Kostenexplosion führen, will man den derzeitigen Pflegestand halten, geschweige denn verbessern. Rechnung am Beispiel der Pflegestufe 4: mehr als 160 Stunden Pflegebedarf notwendig; Höhe des Pflegegeldes – 620,30 Euro; das ergäbe einen Stundenlohn von 3,87 Euro (!!!); eine diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester kostet in der Stunde in etwa 40 Euro (von 6 bis 20 Uhr), Nachtdienste sind nochmals teurer.

Zweitens besteht schon jetzt im Pflegebereich ein akuter Mangel an Fachkräften wie diplomierten Gesunden- und Krankenschwestern. Alle Langzeitarbeitslosen zu diplomiertem Pflegepersonal umzuschulen klingt zwar für einen arbeitsmarktpolitischen Schreibtischtäter verlockend, ist aber in der Praxis völlig undurchführbar.

Drittens brauchen Menschen mit Behinderungen für den überwiegenden Großteil ihrer Pflege kein diplomiertes medizinisches Personal. Gefragt sind vielmehr Flexibilität und Unterstützung bei der Bewältigung des Alltages (beispielsweise: beim Essen, Kochen, Anziehen, Waschen, Liegeposition in der Nacht verändern etc.) durch persönliche Assistenz.

Nicht entmündigt
Im Unterschied zu den vorhandenen Hilfsangeboten beziehungsweise sozialen Diensten sind bei der persönlichen Assistenz die Assistenznehmer nicht Objekte, an denen die Hilfsleistungen erbracht werden, sondern bestimmen selbst als Subjekte über die gesamte persönliche Assistenz. Sie werden dadurch zu selbstständigen Arbeitgebern, die ihre unterschiedlichen Bedürfnisse am besten kennen und nicht zu entmündigten und geschwächten Konsumenten.

Der flächendeckende und ausschließliche Einsatz von diplomiertem Pflegepersonal hieße, das „Kind mit dem Bad auszuschütten“.

Viertens, und das ist jetzt die Chuzpe: Das, was Herr Johann Hable fordert, wollen die Betroffenen ja gar nicht. Menschen mit Behinderungen wollen ihr Leben selbst bestimmen und keine Einschränkung ihrer Autonomie dadurch, dass sie nur mehr zwischen diversen Sachleistungen eine Auswahl treffen können. Sie haben sich ein gut funktionierendes System an Assistenzleistungen aufgebaut.

Das Pflegegeld als Geldleistung sichert vielen Betroffenen ein selbst bestimmtes Leben außerhalb von Heimen und die finanzielle Anerkennung der unverzichtbaren Pflegeleistungen der Angehörigen. Das Ziel des Pflegegeldes liegt darin, einen Beitrag zu den pflegebedingten Mehraufwendungen zu leisten und die Pflegeleistungen der Angehörigen zu unterstützen, und nicht darin, für den Arbeitsmarkt in Zeiten der Krise Arbeitsplätze zu schaffen.

Der individuelle und flexible Betreuungsbedarf kann durch ein schwerfälliges Sachleistungssystem nie so bedarfsgerecht abgedeckt werden. Weiters hat der Betroffene großes Interesse an einer gleich bleibenden Pflegeperson, die Pflegeinstitution wird aber nach eigenen Kriterien Personal entsenden, was einen massiven Qualitätsverlust für den Pflegebedürftigen zur Folge hätte.

Zivildiener-Einsatz
Änderungen beim Pflegegeld sind erforderlich, sie dürfen aber nicht dazu führen, dass das selbst bestimmte Leben behinderter Menschen eingeschränkt wird. Notwendig ist die Anhebung des Pflegegeldes, insbesondere in den höheren Stufen.

Vorstellbar ist eine Erweiterung in der Form, dass es eine Möglichkeit gibt, die Lohnnebenkosten außerhalb des Pflegegeldes zu finanzieren (vergleichbar mit der Pensionsversicherung des betreuenden Elternteils eines behinderten Kindes).

Ebenso muss der Einsatz von Zivildienern für Zwecke der persönlichen Assistenz ausgebaut und erleichtert werden. Als Gedankenanstoß ist auch das schwedische Modell denkbar, bei welchem die bedarfsgerechten Pflegestunden abgerechnet werden.

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