Langzeitstudie: Schule verschärft die soziale Ungleichheit

Das Schulsystem befördert die soziale Exklusion von Kindern in Armut.

Schulgebäude von außen
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Dies ist das zentrale Ergebnis der Langzeitstudie über kindbezogene Armutsfolgen, die die Arbeiterwohlfahrt (AWO) gemeinsam mit dem Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS) durchgeführt hat. Auszug aus der Präsentation zum Abschluss der 4. Phase der AWO-ISS-Langzeitstudie

Das besondere Verdienst der AWO-ISS-Studie: Sie macht die Auswirkungen von Armut von der KiTa bis zum Ende der Sekundarstufe I sichtbar und nachvollziehbar. Dabei deckt auch diese Studie auf, dass die Schule mit ihren Strukturen und ihrer Funktionsweise die soziale Ungleichheit verschärft und Armut über Bildungsarmut verfestigt.

Die AWO-ISS-Studie erforscht Armutsfolgen

Die Studie hat mit ihren vier Forschungsschwerpunkten die Lebenslagen von armen Kindern und Jugendlichen an den biografischen Bildungsübergängen erfasst und mit denen nicht armer Kinder verglichen. Nach den Veröffentlichungen über „Armut im Vorschulalter“, „Armut im frühen Grundschulalter“, „Armut bis zum Ende der frühen Grundschulzeit“ liegt inzwischen auch der Abschlussbericht der 4. Phase bis zum Ende der Sekundarstufe I vor. Er trägt den Titel „Von alleine wächst sich nichts aus…“ und wurde im August 2012 öffentlich vorgestellt. Auch in der letzten Stufe konnten 50 % der ehemaligen KiTa- Kinder in AWO-Einrichtungen wieder befragt werden. Von den 1999 erstmals einbezogenen 893 Kindern und deren Familien nahmen an der letzten Phase 449 wieder teil. Auch wenn die Langzeitstudie aufgrund ihrer Beschränkung auf Befragte in ehemaligen AWO-KiTas nicht repräsentativ für Deutschland ist, erhebt die Studie den Anspruch auf Verallgemeinerung der Tendenzbeschreibungen.

Das Risiko multipler Deprivation wächst mit der Armut und ihrer Dauer

Die Studie definiert drei Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen: das Wohlergehen, die Benachteiligung und die multiple Deprivation. Sie spricht von multipler Deprivation, d. h von umfassender Benachteiligung in der Lebenslage, wenn von den Bereichen der materiellen, sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Versorgung mindestens drei erheblich eingeschränkt sind. Im Falle einer Benachteiligung sind die Einschränkungen etwas weniger auffällig und im Falle des Wohlergehens gar nicht vorhanden. Die Studie weist den engen Zusammenhang von Armut und multipler Deprivation nach. Danach gehören arme Jugendliche nahezu viermal so häufig zur Gruppe der multipel Deprivierten wie nicht arme. Im Entwicklungsverlauf der ehemaligen KiTa-Kinder zeigt sich auch, dass jedes zweite dauerhaft arme Kind als Jugendlicher multipel depriviert ist.

Frühe Armut und multiple Deprivation sind Prädikatoren für die Schul- und Ausbildungsbiografie

Die Studie spricht von einer „erstaunlichen Prognosekraft der frühen Armut auf den späteren Schulerfolg“. Die armen Kinder und Jugendlichen konzentrieren sich auf der niedrigen Stufe des Schulsystems (Förder- und Hauptschule), während die nicht armen vorrangig auf der höheren Stufe (Gymnasium) zu finden sind. Wird zusätzlich die Lebenslage berücksichtigt, dann ist das Ergebnis noch eindeutiger. Kinder und Jugendliche im Wohlergehen finden sich kaum in Förderschulen oder Hauptschulen, während sich hier arme Kinder und Jugendliche mit multipler Deprivation konzentrieren. 63 % der armen und multipel deprivierten Kinder haben es nicht bis zum Hauptschulabschluss geschafft. Brüche in der Schulbiografie sind eher die Regel für die armen Kinder und Jugendlichen. Es ist „erschreckend realistisch“, so die Studie, dass jeder vierte der armen Jugendlichen keine Berufswahl für sich sieht. Sie zeigen deutlich größere Skepsis bezüglich ihrer Chancen als nicht arme Jugendliche.

Eine migrationsbedingte Verstärkung negativer Armutseffekte ist nicht nachweisbar

„Den prägenden Risikoeinfluss auf die Entwicklung junger Menschen hat die finanzielle Lage der Familie, egal ob mit oder ohne Migrationshinweis“, so die Forscher. Migrationsbedingte Effekte als negative Verstärkung für die Entwicklung von armen Kindern lassen sich wissenschaftlich nicht nachweisen. In fast allen Fällen verschwindet der Migrationshintergrund als Einflussfaktor im Verlauf der Schulbiografie fast vollständig. Dagegen stellt die Studie fest: „Verfestigte Armut in bildungsfernen Familien ohne Zuwanderungsgeschichte hat sich als Hauptproblem erwiesen.“ Der Befund, dass arme Migrantenjugendliche häufiger im Wohlergehen aufwachsen als arme Jugendliche ohne Migrationshintergrund, wird mit den höheren Bildungsaspirationen der Eltern, mit der längeren Verweildauer in der Grundschule vor dem Wechsel zur Förder- bzw. Hauptschule und mit dem höheren Sozialkapital der Herkunftsfamilien erklärt. Arme herkunftsdeutsche Jugendliche wachsen häufiger isoliert in wenig stabilen Familienformen auf.

Die Studie plädiert für ein sozial inkludierendes Schulsystem

Anhand der untersuchten Fälle wird sichtbar, dass „das Schulangebot im gesamten Schulverlauf nicht passend für den Förder- und Bildungsbedarf von Kindern mit früher, vor allem aber mit andauernder Armutserfahrung und Benachteiligung“ ist. Individuelle Förderung bleibt unwirksam gegenüber Strukturen und Funktionsweise des selektiven Schulsystems. Diese bewirken „eine Potenzierung armutsbedingter Benachteiligung“. Die Studie empfiehlt zur Bekämpfung der Armutsfolgen “ frühe Förderung und Prävention, ein sozial inkludierendes Schulsystem, systematische und strukturelle Begleitung durch Bildungs- und Förderketten, eine umfassende Infrastruktur für Familien.“ Sie unterstreicht aber gleichzeitig auch die Notwendigkeit, nicht nur die Armutsfolgen, sondern auch die Armut selbst zu bekämpfen.

Die Aussonderung armer Kinder aus dem allgemeinen Schulsystem beenden

Mit der Aussonderung aus den allgemeinen Schulen in die Förderschulen, die meistens während der Grundschulzeit stattfindet, werden Kinder mit armutsbedingten Auffälligkeiten und Entwicklungsproblemen immer noch wie zu Zeiten der Hilfsschule im vorigen Jahrhundert als behindert kategorisiert und abgestempelt, in ihren Entwicklungsmöglichkeiten und Lebensperspektiven drastisch eingeschränkt und so dem Risiko der gesellschaftlichen Stigmatisierung und Exklusion ausgesetzt. Auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem ist das Auslaufen der Förderschulen für Arme daher ein absolut unverzichtbarer Schritt. Er muss verbunden werden mit einem Umbau der allgemeinen Schulen zu Lern- und Lebensorten, die allen Kindern unabhängig von ihren sozialen Herkünften und Lebenslagen gerecht werden. Er muss begleitet sein durch eine Politik der sozialen Prävention und der Armutsbekämpfung.

Aber wie soll man eine Bildungspolitik bezeichnen, die trotz der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Umsetzung inklusiver Bildung mehrheitlich an den aussondernden Förderschularten für Arme festhält, ihnen trotz der erdrückenden Beweise für ihre schädliche Wirkung zu demokratischer Scheinlegitimation verhilft durch die schulrechtliche Verankerung eines sog. Elternwahlrechts und es denen offeriert, von denen auch sie weiß, dass diese aufgrund ihrer prekären Lebenssituation ihre Beteiligungsrechte nicht wahrnehmen können oder schon längst nicht mehr wahrnehmen wollen? Nutzen wird es denen, die als Lobbyisten das Förderschulsystem lautstark bewerben. Wie soll man eine Bildungspolitik bezeichnen, die mit dem Festhalten an dem teuren und unsinnigen Förderschulsystem den allgemeinen Schulen Mittel zur inklusiven Entwicklung vorenthält und so den Inklusionsprozess untergräbt? Ist das noch pragmatische Bildungspolitik oder schon blanker Zynismus?

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