Lebendig begraben – der Heim-Report

Eine vertrauliche Akte dokumentiert nun erstmals, wie alte Menschen in Österreichs Heimen festgebunden, eingesperrt, in Achtbettzimmern abgelegt oder ruhig gespritzt werden.

Geriatriezentrum Am Wienerwald
wien.at

Dieser erschütternde Bericht erschien in NEWS.

Auf den Gängen sitzen Tote, die erst in ein paar Jahren sterben werden. Mit Gurten an Sesseln und Rollstühlen festgebunden, „damit sie sich nicht verletzen“. Durch schwere Medikamente apathisch gehalten, „damit sie zufriedener sind“. In Windeln, „damit sie nichts aufs Klo gehen müssen“. Am Armgelenk ein Bändchen oder einen Sender, „damit sie nicht davonlaufen“.

Die Türen nach draußen sind meist versperrt, verkeilt oder vergittert, und tatsächlich bleibt das, was drinnen, in vielen der über 700 Alten- und Pflegeheime des Landes, passiert, draußen ein Tabu.

Herr L. 82, ein Gärtner, war „schlimm“, wie die Schwester sagt, deshalb kommt er ins Netzbett. Frau W. 95, „wollte nicht sitzen bleiben“, deshalb wird sie in die Abstellkammer gesperrt. Herr K., 84, ein Beamter, bekommt auch diesen Monat kein Taschengeld, weil er „nie aufisst“. Frau E. 91, die bis vor kurzem noch als selbständige Unternehmerin tätig war, „ist in ihrem Zimmer eingesperrt und mit einem Leintuch am Rollstuhl festgebunden“. Das Personal gibt an, damit verhindern zu wollen, dass die alte Dame stürzt und sich etwas bricht. Dass sie so gebrochen wird, ist keinem bewusst. Eine aktivierende Pflege, sagen die Helfer, sei nicht notwendig, denn „die merkt sowieso nicht, dass sie fixiert ist“.

Nackt im Netzbett
L Frau K., 90, liegt, bis auf eine Windel und Socken, nackt im geschlossenen Netzbett, „weil sie immer wieder aufstehen möchte“. Die Bettdecke wurde ihr weggenommen, „weil sie sich immer abdeckt“. Und die Kleidung, „weil sie sich immer auszieht“. Dass diese Übergriffe und Zwangsmaßnahmen keine Einzelfälle, sondern Teil des Alltags in Alten- und Pflegeheimen sind, ist nun erstmals belegt.

Illegale Praktiken
In einer Akte an den Justizminister dokumentiert der „Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft“ , wie alte Menschen, im internen Sprachgebrauch „Pfleglinge“ genannt, eingesperrt, ruhig gestellt, festgebunden und entwürdigt werden. In dem 50 Seiten umfassenden Bericht listen die Mitarbeiter des renommierten Vereins, die in ganz Österreich Tausende Heimbewohner rechtlich unterstützen und daher fast alle Heime „von innen“ kennen, auf, was sie bei ihren Besuchen persönlich erlebt und gesehen haben.

Ergebnis: Fast alle Heimbewohner sind von Zwangsmaßnahmen, die eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit bedeuten, betroffen. Das reicht vom „Festbinden am Bett“ bis zu „Schuhen, die Insassen weggenommen werden, damit sie nicht weggehen können“. Die Rechtfertigung ist immer gleich: Das Heim müsse die Gesundheit der Patienten schützen. „Doch dieses Argument trifft nur bei manchen Bewohnern zu“, sagt Peter Schlaffer, Geschäftsführer des Vereins, „in der überwiegenden Mehrheit ist es schlicht eine Ausrede.“

Der Bericht weist darüber hinaus nach, dass dieses Vorgehen nicht nur menschenunwürdig, sondern sogar illegal ist. „Denn die Totalfixierung, wie das Festschnallen mit Bauchgurten in der Sprache des Pflegepersonals heißt, das Versperren der Zimmer, die Medikation“ , sagt Peter Schlaffer, „all dies geschieht im rechtsfreien Raum. Weder das Heim noch der Sachwalter oder ein Richter sind nach der geltenden Rechtslage befugt, solche Maßnahmen überhaupt anzuordnen. Es gibt keine Rechtsgrundlage für das, was in Heimen erlaubt und verboten ist.“ „Die Alten haben eben keine Lobby“, sagt die Arztin Angelika Rosenberger, die das Geriatriezentrum „Am Wienerwald“ (das frühere Pflegeheim Lainz) mit 2.700 Patienten das größte Pflegeheim des Landes leitet.

Pflege um 33.350 Schilling
So liegen die meisten Insassen hier in Achtbettzimmern, ein Stahlrohrbett steht streng ausgerichtet neben dem anderen, die meisten alten Bewohner sind durch Spritzen oder Pulverln „gedämpft“, die Intimsphäre besteht aus einem Metallspind in der Ecke, und der Fernseher in der Mitte des kalten Raumes zeigt dröhnend einen Bericht über Menschenrechte in China. Macht 33.350 Schilling Kosten pro Monat. „Am liebsten würde die Gesellschaft ja einen Zaun rund um die Geriatrie ziehen“, sagt auch Susanne Steiner, die Direktorin des Pflegeheims Liesing, „damit niemand mit dem Thema alte Menschen konfrontiert wird.“

Kein Gesetz seit Lainz
So bleibt tabu, was alle betrifft. Die alten Menschen selbst können sich nicht wehren. Ein Gesetz zu ihrem Schutz, seit dem Lainz-Skandal im Jahr 1989 versprochen, gibt es bis heute nicht. Die Angehörigen schweigen aus einer Mischung aus schlechtem Gewissen, „den Papa ins Heim gegeben zu haben“, und der berechtigten Angst, dass Beschwerden alles noch schlimmer machen würden. Die Pfleger und Ärzte wiederum resignieren, weil für eine vernünftige Hilfe viel zu wenig Personal und Geld zur Verfügung steht und sie deshalb zumeist nur das Allernotwendigste erledigen können. Bleiben die Politiker, die in den Heimen nur dann vorbeischauen, wenn Wahlen vor der Tür stehen. …

Weil der „Verein für Sachwalterschaft“ verhindern will, dass einzelne Heime oder deren Mitarbeiter zur Rechenschaft gezogen werden, während das System unverändert weiter besteht, wurden im Report an den Justizminister alle aufgedeckten Fälle anonym aufgelistet. Auf Verlangen der Staatsanwaltschaft sind die Sachwalter freilich bereit, die konkreten Namen der betroffenen Heime zu nennen.

Die „Unruhebetten“
Die wohl erniedrigendste Form solcher Maßnahmen ist das Netzbett, das im Schönsprech der Heime neuerdings „Unruhebett“ genannt wird. Obwohl das Einsperren ins Netzbett, das nur von außen geöffnet werden kann, aufgrund der Augenscheinlichkeit des Skandals verpönt ist, greifen im Durchschnitt immer noch zwei von drei Heimen darauf zurück.

So berichtet die für das Burgenland zuständige Sachwalterin Franziska Tuppa: „Die Netzbetten sind das Ärgste. Und trotzdem werden sie in vielen Heimen überdurchschnittlich oft verwendet.“ Eine Mitarbeiterin der Sachwalterschaft in Niederösterreich gab zu Protokoll: „Bei meinem Besuch im Heim war meine Klientin, welche an und für sich mit Unterstützung mobil ist, Netzbett eingeschlossen. Nackt. Und das Fenster stand weit offen. Die Schwester sagte nur, ich solle mich nicht auf regen, meine Klientin sei eben aggressiv und außerdem sowieso deppert. Ich zog meine Klientin an und deckte sie zu. Sie legte sich sofort ohne Umschweife nieder.“

Tischverbau als Zelle
Wie umfangreich die Palette an Zwangsmaßnahmen ist, dokumentiert auch Margarete Stelzer von der Sachwalterschaft in Oberösterreich: „Zimmertüren werden von außen verkeilt, eine Holzlatte unter der Türschnalle verhindert das Öffnen von innen. Die Bewohner werden mit Leintüchern an Sesseln festgebunden, auch Gurten sind hierzu im Einsatz. Zwei Tische werden quer zur Mauer, ein dritter Tisch wird parallel gestellt, sodass zwischen diesem und der Wand noch Platz für den Bewohner verbleibt, ein sogenannter Tischverbau. Stiegenabgänge sind mit Holzgittern versperrt. Die Pflegeabteilung kann nur mittels Zahlencode verlassen werden.“ …

Bis zu drei Viertel ruhig gestellt
Zwischen 10 und 75 Prozent der Heimbewohner bekommen Neuroleptika oder Depotspritzen. Was stets als Therapie gerechtfertigt wird, stellt sich laut Bericht in der überwiegenden Zahl der Fälle als Zwangsmaßnahme dar. „So sind sie viel ruhiger“, heißt es.

„Nur rüstige Bewohner sind in der Lage, sich gegen das Medikamentendiktat zu wehren“, sagt die Sachwalterin Margarete Stelzer aus Oberösterreich, „der Einsatz erfolgt nicht subsidiär, sondern als schneller Problemlöser.“ Die Dosis wird dabei häufig so hoch gewählt, dass die alten Menschen nur noch vor sich hin dämmern. Freilich geschieht auch dies nicht aus Sadismus, sondern zumeist aus purer Personalnot, was ein gerichtlich beeideter Sachverständiger vor Gericht vor kurzem zynisch so formulierte: „Durch den Einsatz sedierender Medikamente ist eine dauernde Bereitschaft des Pflegepersonals nicht mehr erforderlich und die angestrebte höhere Pflegegeldstufe daher nicht mehr zu rechtfertigen.“

„Toten-ruhig!“ gestellt
Die schwierige Gratwanderung zwischen Hilfe und Gefügigmachen beschreibt auch der Stationsarzt eines Wiener Pflegeheimes: „Die ,therapeutische Breite‘ ist sehr gering, denn bei einer zu starken Sedierung stürzt der Patient, bei Lockerung benötigt er aber eine Einzelbetreuung.“ Franziska Tuppa berichtet von Patienten, „die vor der Sedierung herum gehen, angeregt plaudern, nach sechs bis acht Wochen dann nur noch am Tisch sitzen, immer müde sind, nicht mehr wollen, und wieder ein paar Wochen danach sitzen sie im Rollstuhl und sind nicht mehr ansprechbar.“

Taschengeld nur bei Bravsein
Oft passiert die Entwürdigung aber noch subtiler: In Wiener Heimen tragen alle Bewohner Plastikbändchen ums Handgelenk, „damit sie identifizierbar sind“. Der Versuch, in die Kleider Chips einzunähen, um „verloren gegangene Pfleglinge“ rasch wieder zu finden, ist vorerst auf Eis gelegt, der Wunsch des Personals, auf der Oberbekleidung der Bewohner groß deren Name und Station aufzukleben, wurde untersagt.

Die „Pfleglinge“ werden oft ungefragt mit dem Duwort angesprochen, das Heim behält das Taschengeld ein und zahlt es nur bei „erwünschtem Verhalten“ aus, auf der Station gibt es kein für die Patienten zugängliches Telefon, „das Briefgeheimnis wird durch das Öffnen der Post verletzt“. Selbst Patienten, die sich noch ohne Probleme selbst ernähren können, erhalten Sonden, damit sich das Personal zeitaufwendiges Füttern spart. Wer die Ordnung des Heimes verletzt, bekommt in manchen Einrichtungen sogar „Hausarrest“. In vielen Heimen stehen nur vier Schwestern bis zu 90 Pflegebedürftigen gegenüber. Was dazu führt, dass dort die Nachtruhe vorverlegt wurde: auf 15.30 Uhr.

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