Wien verpasst vielleicht eine Chance zu lernen. Vor allem deswegen, weil es so schön einfach ist, mit dem Finger auf die dunkle Vergangenheit zu zeigen und dabei Ereignisse bis zur Gegenwart auszublenden. Ein Kommentar.
Für den Wr. Krankenanstaltenverbund stand kürzlich das Ergebnis der Überprüfung der Misshandlungen behinderter Kinder im Pavillon 15 des Otto-Wagner-Spitals fest.
Eine quasi stadtinterne Arbeitsgruppe fand „keine Hinweise auf vorsätzliche, strafrechtlich zu ahndende Behandlung. … Das Verhalten der MitarbeiterInnen entsprach den in den 1960ern bis 1980ern üblichen Betreuungs- und Behandlungsmethoden.“
Ich halte diese Begründung für unglaublich und überdies unrichtig. Es war in den 1970er und 1980er Jahren international keineswegs mehr fachlicher Standard, behinderte Menschen mit Gewalt zu behandeln.
Mit der gleichen Argumentation könnte man auch die durch den NS-Arzt Heinrich Gross angeordneten Tötungen – nochmals 20 Jahre früher im gleichen Gebäude – rechtfertigen.
Um welche Vorwürfe geht es?
In „Die Schande von Pavillon 15“ (Falter 22/13) erzählte eine ehemalige Mitarbeiterin „von behinderten Kindern, die mit Strumpfhosen und Leintüchern zu kompakten Bündeln verschnürt werden, und von anderen, die über Jahre hinweg tagein, tagaus in ihren Netzbetten liegen, nackt und ohne Bettzeug in ihrem eigenen Kot und Erbrochenen, Vom Niederspritzen mit Schlafmitteln und von Ärzten und Schwestern, die ihren kleinen Patienten mit Gleichgültigkeit oder roher Gewalt begegnen.“
Der Kurier berichtete später von zu Tode vernachlässigten behinderten Kindern. „Anfangs etwa eines pro Monat, etwa ab 1983 hat es Gott sei Dank nachgelassen“, so ein ehemaliger Mitarbeiter der pathologischen Abteilung des Spitals.
Aufarbeitung – nun aber bitte ernsthaft!
Wien muss sich endlich ernsthaft einer umfangreichen Aufarbeitung der Vorfälle stellen.
Es muss eine Selbstverständlichkeit sein, dass so eine Arbeitsgruppe ausgeschrieben wird und unabhängige interdisziplinäre Expertinnen und Experten ausgewählt werden. Absolut notwendig ist vor allem auch die Einbeziehung von behinderten Menschen, die selbst in Institutionen gelebt haben und/oder sich ausführlicher mit behinderungsspezifischen Gewaltphänomenen befasst haben.
Die Aufarbeitung muss strukturelle Gewalt, Medikamentenmissbrauch und körperliche Gewalt in der Behindertenhilfe von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart umfassen.
Nicht notwendig?
Wer glaubt, dass strukturelle und körperliche Gewalt in den 1980er endete, dem fehlt der Einblick in die Verhältnisse der Behindertenhilfe.
Das systematische Ausblenden von Menschenrechtsverletzungen, das Vertuschen, Verschleiern, Vernebeln muss endlich ein Ende haben – auch und vor allem in Wien.
(Dieser Kommentar erschien im Falter 38/14.)