Leserbrief an Profil: Artikel Pflegeproblematik

Ich war sehr enttäuscht über Ihren einseitigen Artikel zur Pflegeproblematik. Die Position der Pflegebedürftigen wurde kaum berücksichtigt.

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Stattdessen wurden wieder einmal die sattsam bekannten Horrorgeschichten aufgewärmt:

  1. Die Pflegerin, die sexuell belästigt wurde. Diese sehr bedauerlichen Einzelfälle wird es geben, das ist aber bei den zehntausenden Personen, um die es hier geht, auch kein Wunder, sondern schlicht das Gesetz der großen Zahl. Solange es keine Hinweise dafür gibt, dass dies statistisch signifikant öfter als in anderen Berufen geschieht, ist es also nur sensationslüsterner Tratsch auf „Krone“-Niveau. Im übrigen sitzt ohnehin immer die Pflegerin am längeren Ast. Sie kann ihre Situation durch Kündigung jederzeit ändern. Der Pflegebedürftige kann seiner Behinderung nicht kündigen. Warum sollte er also die Hand beißen, die ihn – oft im buchstäblichen Sinne – füttert?
  2. Die böse reiche Familie in der Döblinger Villa, die die Pflegerin im unbeheizten Gartenhaus schlafen läßt. Das sind definitiv Einzelfälle, denn dass Pflegebedürftige tendenziell zu den sozial Schwachen zählen, ist durch Studien belegt. (Ein besonderer Hang zu Boshaftigkeit und schikanösem Verhalten hingegen nicht.) Das niedrige Lohnniveau slowakischer PflegerInnen von 30-40 Euro/Tag ergibt sich ja nicht daraus, dass Behinderte aus Geiz und Niedertracht nicht mehr zahlen wollen, sondern weil sie es i.d.R. nicht können.

Wenn man das Pflegegeld der höheren Stufen durch 30 dividiert und Kost und Logis berücksichtigt, ergeben sich eben solche Sätze. Höhere Löhne, bezahlten Urlaub und 14 Monatsgehälter zu fordern ist ehrenhaft, aber nur, wenn man gleich dazusagt, dass man dafür das Pflegegeld vervielfachen müsste. Sonst ist es nur weltfremde Phantasterei wider die Grundrechenarten.

Die wahren Abzocker sind übrigens nicht die slowakischen Vermittlungsvereine, sondern partei- und kirchennahe österreichische Vereine, die 30 Euro pro Stunde verlangen, nicht pro Tag. Und wenn Volkshilfe-Geschäftsführer Fenninger meint, es sei ein „Luxus“, wenn eine Pflegerin nur eine Person betreue, zeugt das auch von deren menschenverachtendem Zynismus. Für Schwerstbehinderte ist genau das die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und Altern in Würde.

Das Mehrbettzimmer im Heim ermöglicht das nicht. Aber leider leben wir in einer Gesellschaft, die sich mehr über die Käfighaltung von Hühnern echauffiert als über jene von Senioren.

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