Blitzlichter aus dem Alltag einer blinden Mutter
Da ich als blinde Mutter einer inzwischen sechsjährigen Tochter viel Interessantes und nicht immer ganz Alltägliches zu berichten habe, möchte ich meine Erfahrungen an die Leserinnen und Leser weitergeben.
Im Rahmen eines früheren Artikels habe ich bereits über die ersten drei Jahre mit meiner Tochter Hannah berichtet.
Dort behandelte ich Themen wie beispielsweise Kindersicherheit bei Kleinkindern, außerhäusliche Aktivitäten und Assistenz, Möglichkeiten des Transports ohne Kinderwagen, gemeinsames Spielen und eine „andere Form der Kommunikation“, bevor eine sprachliche Verständigung möglich ist.
Zu einer anderen Art der Kommunikation zwischen Hannah und mir zwei Beispiele: Da ich nicht mitbekommen konnte, wenn sie mir ein Spielzeug zum Bewundern hinhielt, sie dies jedoch noch nicht sprachlich mitteilen konnte, hat sie mir beispielsweise ihr neues Auto direkt in die Hand gegeben. Als sie noch nicht sagen konnte, dass sie noch ein zweites Brot wollte, hat sie mit dem Frühstücksbrett geklappert, so dass ich Bescheid wusste … Im folgenden Bericht wird es um die Kindergartenzeit, also die Zeit zwischen drei und sechs Jahren, mit meiner Tochter Hannah gehen.
„Mama, warum bist du blind?“
Die Kindergartenzeit hat vieles verändert. Ab diesem Zeitpunkt wurde meiner Tochter bewusst, dass ich „anders“ bin. Hannah begann zu fragen, warum ich blind bin bzw. warum „andere Mamas“ nicht blind sind. Sie erlebte auch, dass andere Kinder sie etwas über mein Blindsein gefragt haben, beispielsweise ob ich kochen kann. Ich habe Hannah versucht zu vermitteln, wenn ihr die „Fragerei“ zu viel wird, solle sie sagen, die Kinder könnten mich selbst fragen.
Teilweise kann auch eine Einheit zum Thema „Blindheit“ in der Kindergartengruppe oder Schulklasse des eigenen Kindes hilfreich sein. So werden alle Fragen auf einmal beantwortet und das Kind ist den Fragen nicht mehr so ausgesetzt.
Austricksen
Mit zunehmendem Alter gibt es natürlich von Hannah Versuche, mich auszutricksen. Ich fände es sehr ungewöhnlich, wenn dies nicht passieren würde. Manchmal ist es auch ein Test, was ich mitbekomme und was nicht. Dabei war Hannah immer wieder erstaunt, beispielsweise als ich sagte: „Stell die Marmelade wieder hin!“ oder: „Ich habe gemerkt, dass du meinen Rucksack vom Haken genommen hast…“ Inzwischen weiß sie, dass ich vieles über das Hören mitkriege, manches natürlich auch nicht.
Einerseits sage ich ihr dann zwar auch „Ich finde es nicht gut, dass du es manchmal ausnutzt, dass ich nicht sehe!“. Anderseits kann es auch sehr effektiv sein, einfach „langweilig“ zu reagieren. Wenn ich mich besonders aufregen würde, wäre es spannender mich auszutricksen. Und mit einem gewissen Maß von „Austricksen“ muss ich wohl leben. Kinder von sehenden Müttern haben auch so ihre Methoden …
Gefahrenpotentiale
Gefahren in- und außerhalb des Hauses haben bei einem Kind im Alter von sechs Jahren natürlich abgenommen. Im Vergleich zu ein- oder zweijährigen Kindern würde Hannah beispielsweise nicht mehr einfach weg- bzw. auf die Straße laufen. Jedoch kann mittlerweile eher etwas durch Übermut oder Ausprobieren passieren. So hat sie sich beispielsweise noch mit vier Jahren einen Kirschkern in die Nase gesteckt, der dann von einem Arzt entfernt werden musste.
Zuerst hatte ich dafür einen Nachbarn geholt, da ich dachte, er könne den Kirschkern leicht entfernen, weil er ihn sieht. Er schaffte es leider aber auch nicht. Wenn ich mir mit irgendetwas unsicher war oder bin was damit zu tun hat, dass ich nicht sehen kann, und kein Sehender in der Nähe ist, bitte ich Nachbarn um Hilfe. Dies ist etwa der Fall, wenn bei Hannah eine Zecke entfernt werden muss.
Da Hannah inzwischen sechs Jahre alt ist, muss ich schon längere Zeit draußen nicht mehr ständig auf sie aufpassen. So fährt sie auf unseren wenig befahrenen Anliegerstraßen allein oder mit anderen Kindern Fahrrad und alle wissen, dass sie nicht auf die große Hauptstraße dürfen. Draußen spielt sie mit anderen Kindern Ball oder irgendetwas anderes was Kindern so Spaß macht.
In der Regel guckt sie zwischendurch immer wieder bei uns rein oder ich weiß, dass sie bei einem anderen Kind zu Hause ist. Zweimal habe ich sie zusammen mit einer Nachbarin suchen müssen, da mir die Zeit, die sie nicht wieder auftauchte, etwas lang erschien.
Manches ist natürlich auch eine Frage der Mentalität des Kindes. Ein „draufgängerisches“ Kind müsste möglicherweise öfter gesucht werden als ein „zurückhaltenderes“. Als blinde Mutter finde ich es wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass bestimmte Absprachen unbedingt eingehalten werden müssen, um beispielsweise „alleine rausgehen“ möglich zu machen. Hannah soll sich dann ab und zu melden damit ich sie nicht, etwa zum Essen, dauernd suchen muss.
Was bringe ich meiner Tochter bei?
Manches Neue, wie beispielsweise Roller- und Fahrradfahren, hat Hannah bei meinem Mann gelernt. Als sie jedoch die ersten Zahlen und Buchstaben wissen wollte, konnte auch ich sie dabei unterstützen. Zahlen hat sie mit Hilfe eines Zahlenbuches eingeübt, welches ich in Blindenschrift beschriftet hatte. Zum Buchstaben lernen hatte ich mir für Hannah große, farbige, für mich gut ertastbare Kunststoffbuchstaben besorgt.
Im Gegensatz zum Lernen des Lesens von Zahlen und Buchstaben konnte ich jedoch ihre ersten Schreibversuche nicht begleiten da ich ihr nicht vorschreiben, bzw. sie beim „Schreiben üben“ nicht selbst korrigieren kann. Die Uhr zu lesen hat sie mit mir bei einer längeren Zugfahrt gelernt, da ich ein „Felixbuch“ mit Uhr dabei hatte. Bei dieser Uhr sind die Zeiger beweglich und die Zahlen habe ich mit tastbaren Punkten markiert.
Kontakt zu anderen Eltern und Kindern
Bei manchen Eltern habe ich anfangs Berührungsängste gespürt. Dabei handelt es sich um die üblichen Unsicherheiten, die uns Nichtbehinderte oft entgegenbringen, die mit blinden Menschen noch keinen Kontakt hatten. Anfangs wollten diejenigen, mit denen sich erste gegenseitige Kinderbesuche entwickelten, einiges wissen, beispielsweise darüber, wie ich meinen Alltag mit Hannah organisiere.
Mir wurde jedoch nie gesagt, dass Vorbehalte bestünden, das eigene Kind von mir mit beaufsichtigen zu lassen. Aber vielleicht gab es doch unausgesprochene Ängste, zumindest am Anfang. Ich selbst gucke aber auch genau, bei welchen Kindern ich es mir zutraue, sie zu Hause zu beaufsichtigen.
Daher war es mir wichtig, das jeweilige Kind, beispielsweise durch einen gemeinsamen Besuch mit der Mutter, schon etwas kennen gelernt zu haben. Inzwischen, bei den Fünf- oder Sechsjährigen, fühle ich mich weniger unsicher, weil der Aspekt „Gefahrenpotentiale für kleine Kinder“ mit deren zunehmendem Alter immer unbedeutender wird.
„Du kannst deiner Mama ja schön helfen …“
Dies ist eine Äußerung, die sich blinde Mütter bzw. deren Kinder immer wieder anhören müssen. Sie drückt aus, wie wenig uns blinden Müttern/Vätern allgemein zugetraut wird. Das klingt schon fast nach Rollentausch … Ich will damit jedoch nicht behaupten, dass unsere Kinder uns nicht auch mal helfen dürfen. Jedoch ist es eine Gradwanderung, wann ich mein Kind einsetze, um mir bei Dingen, die ich nicht sehe, behilflich zu sein, ohne es zu überfordern.
So ist es beispielsweise kein Problem, wenn ich Hannah nach der Farbe eines bestimmten Kleidungsstückes frage, oder ob dieses noch sauber ist. Auch sucht sie bei kleineren Einkäufen gerne bestimmte Dinge z.B. Äpfel oder Knäckebrot. Jedoch versuche ich nichts zu erfragen, was für sie zu schwierig zu finden wäre. Dafür muss ich dann eine Verkäuferin oder andere Kunden ansprechen. Für mich ist es ein Unterschied, ob Hannah mit mir einkauft, weil sie Lust hat mitzukommen, oder ob ich sie nur mitnehme, weil ich ihre Hilfe benötige.
Ähnlich geht es mir bei Spaziergängen, wenn wir zum Arzt oder zu Bekannten unterwegs sind. Hannah sucht gerne mal eine Abzweigung, Eingänge bzw. bestimmte Hausnummern. Hausnummern oder die Busnummer zu lesen, macht ihr sogar richtig Spaß, weil sie stolz auf ihre Lesekenntnisse ist.
Jedoch würde ich mich von ihr, als Sechsjährige, nicht führen lassen. Ich habe immer noch den Blindenstock dabei, da es für sie eine Überforderung wäre, immer daran denken zu müssen, mich um Hindernisse herumzuführen und Stufen anzusagen. Sonst würde ihr wahrscheinlich auch schnell die Lust an Spaziergängen und anderen außerhäuslichen Unternehmungen vergehen …
Freizeitaktivitäten und Assistenz
Außerhäusliche Aktivitäten wie Spielplatzbesuche, längere Spaziergänge oder der Schwimmbadbesuch sind die letzten Jahre immer einfacher geworden. So bin ich immer weniger darauf angewiesen, dass andere Mütter mit ihren Kindern Aktivitäten mitmachen; dass ich Aktivitäten auf Zeiten verschiebe, wenn der Vater da ist; oder, dass ich Assistenz mitnehme. Obwohl ich Aktivitäten auch gerne gemeinsam mit Anderen durchführe, bin ich froh über die größere Spontaneität, da wir nicht davon abhängig sind, „gerade jemanden zu finden“.
Resümee
Ich finde, wir sind als Familie – bei der die Mutter blind ist, und der Vater so viel sieht, dass er noch Fahrradfahren kann – mit unserer Tochter Hannah ein ganz gut eingespieltes Team. Hannah weiß, wie eigentlich alle Kinder, was sie besser mit der Mama oder mit dem Papa tun kann.
Ich möchte mit diesem Artikel andere Menschen mit Behinderung ermutigen, das „Wagnis Kind“ einzugehen. Für das Leben mit einem Kind oder mehreren Kindern ist nicht ausschlaggebend, ob Mutter oder Vater eine Behinderung haben, sondern, dass sich ein gutes Verhältnis zwischen Eltern und Kind entwickeln kann.
Für Einschränkungen aufgrund einer Behinderung eines oder beider Elternteile gibt es oft, wie oben beschrieben, Lösungen, wobei immer wieder unsere Kreativität gefragt ist. Dabei ist es mir wichtig, dass ich mich mit anderen blinden oder sehbehinderten Müttern oder Vätern austauschen kann!