Martin Ladstätter im Gespräch mit Franz-Joseph Huainigg

Erschienen in: betrifft: integration 1/1996

Interview mit Mikrofon
BilderBox.com

Man kann versuchen, ihn anzurufen. Man kann versuchen, ihm eine Nachricht zu hinterlassen (auf dem Anrufbeantworter oder per FAX). Einen in der Behinderten- und Selbstbestimmt Leben Bewegung engagierten Rollstuhlfahrer wie Martin Ladstätter wirklich zu erreichen, ist schwierig bis unmöglich. Doch wer ihn kennt, weiß, wo er zu finden ist: virtuell im Internet. Man startet am besten seinen Computer und hängt sich ins Internet. Dort ist er zu finden, wie er leibt und klickt. Unter Resümee ist auf dem Server Magnet zu lesen:

Mein Name ist Martin Ladstätter. Bin 29 Jahre alt. Mein Hobby ist ein Aquarium. Nebenbei beschäftige ich mich gerne mit Computern. Meine Internetadresse: Martin.Ladstaetter@magnet.at, wenn Du mehr wissen willst, schreib mir. Dieser Einladung konnte ich nicht widerstehen und führte mit Martin ein Internet-Interview:

Franz-Joseph Huainigg (FJH): Hi Martin, mir liegen ein paar Fragen für das b:i auf dem Herzen!

Martin Ladstätter (ML): Na, dann frag mal.

FJH: In welche Schulen bist Du in welchem Alter gegangen?

ML: 4 Jahre Volksschule, 4 Jahre Hauptschule (beides Sonderschule Währingerstraße) Die heißt jetzt – glaub ich – Hans Radl Schule. Dann 3 Jahre Handelsschule (Sonderschule Phorusgasse), die ist jetzt in der Ungargasse. Dann Abendschule für die Handelsakademie in einer Regelschule. (Also der ersten Schule, die keine Sonderschule war).

FJH: Warum bist Du in Sonderschulen gegangen?

ML: Das war damals kein Thema. BEHINDERT ist Sonderschule. So einfach war das. Damals 1973 stand das gar nicht zur Frage. Meine Mutter erzählt mir, daß damals wer von der „Fürsorge“ kam und diese Vorgangsweise mitteilte. Die Schule war am anderen Ende der Stadt. So mußte ich mit dem Sonderschulbus täglich eine halbe Ewigkeit in die Schule fahren. Es gab dort auch Nachmittagsbetreuung, ich wohnte aber zuhause. Den ganzen Tag war ich in der Schule, dadurch hatte ich kaum soziale Kontakte zur Nachbarschaft.

FJH: Wie lief der Unterricht ab? Warst Du dabei genug gefordert?

ML: Wir waren in Klassen mit weniger Schülern. (Das wußte ich aber damals noch nicht. Für mich war das vorerst die Normalität). Der Unterricht hat mich – so wie wahrscheinlich alle Kinder – unterschiedlich interessiert. Ich glaub, ich war auch nicht genug gefordert. Das lag sicherlich an dem Glassturz der Schule. Vor allem, mit wem hätte ich mich vergleichen sollen? Jetzt Jahre später glaube ich, daß es besser gewesen wäre, in eine Regelschule zu gehen. Sozialkompetenz erlernen kann man nur, wenn man mit Nichtbehinderten in eine Klasse geht. Anfangs hab ich mich in der Regelschule in der HAK daher auch irgendwie komisch gefühlt. Die Klasse war so groß. Und dann die vielen nichtbehinderten Menschen in meiner Klasse!

FJH: Wie waren die Lehrer – gingen sie auf den einzelnen ein?

ML: Ja und nein. Daß in der Sonderschule die LehrerInnen mehr auf die SchülerInnen eingehen, halte ich für ein Gerücht. Es stimmt zwar, daß sie mehr Zeit für den einzelnen haben. Auf die besonderen Bedürfnisse, wie Schreib-, Seh- oder Kommunikationsprobleme wurde in der Sonderschule nur teilweise eingegangen. Unter dem Motto: Wenn Du es nicht kannst, laß es. Macht nichts, es kommt wieder was, was Du auch kannst.

FJH: Wie waren die Erzieher – gingen sie auf den einzelnen ein?

ML: ????? Das war eher eine Art: ALLE AUFGEGESSEN? Jetzt gehen wir in den Garten (der nicht mal barrierefrei war!!).

FJH: Welche Rolle/Position hattest Du in der Schule?

ML: Wie meinst Du das? Ich war Schüler (war kein Scherz). Nein also im Ernst: Ich war aufmüpfig, vorlaut (daher auch Klassensprecher) und auch etwas faul.

FJH: Erlebnisse in der Schule (typische, mit LehrerInnen/SchülerInnen/Eltern)

ML: Typisches fällt mir gerade nichts ein. Vielleicht, daß wir ein Krankenbett im Klassenraum stehen hatten, wo man sich niederlegen durfte. Oder vielleicht, daß wir in der Sonderschule Währingerstraße nicht mal den Aufzug selbst benutzen konnten … Ich hatte manchmal das Gefühl, daß die uns nicht ernst nahmen. Das schärfste war der Religionslehrer der meinte: Behinderte kommen eh in den Himmel.

FJH: Hast Du auch ein Feindbild von denen außerhalb der Schule entwickelt?

ML: Nein. Eigentlich habe ich das irgendwie nicht richtig wahrgenommen. … einmal haben wir einen Vergleichskampf in Mathematik mit einer Regelklasse gemacht. (Wir haben gewonnen. Allerdings war das auch ziemlich der einzige Lehrer, der wirklich versucht, hat uns viel beizubringen. Zumindest hatte ich das Gefühl. Er nahm sich auch Zeit, uns Schach beizubringen, obwohl er da eigentlich Mittagspause hatte.) Einer meiner besten Freunde aus der Volksschule ging dann in die Regelschule, das war irgendwie komisch. Er hat uns erzählt, daß seine Eltern meinten, er müsse nun etwas lernen. Ich hab das nicht verstanden. Unsere LehrerInnen haben uns nämlich auch dauernd erklärt, daß wir genau soviel lernen wie andere.

FJH: Dann bist Du in die Handelsschule gekommen?

ML: In die Handelsschule ging ich, weil es so üblich war. Wenn wer nach der Hauptschule weiter in die Schule ging, dann war das die Handelsschule. „Ihr bekommt ja einen Job im Büro“, hat man uns gesagt. So einfach ist das gewesen. Ich ging in die Vorgängerschule der Ungargasse. Ich finde, diese Schule hat sich wirklich überholt. Dort findet keine wirkliche Förderung statt. Zumindest die gleiche Förderung (wenn nicht sogar eine bessere) kann ich in jeder Handelsakademie bekommen. Das Heim und Schule im gleichen Haus ist kein Vorteil, sondern eine riesiger Nachteil. Das was dort als Integration angeboten ist, ist bestenfalls ein Auffüllen mit nichtbehinderten SchülerInnen.

Wir „integrierten“ in der ersten Klasse Handesschule 4 Nichtbehinderte bei uns 20 behinderten SchülerInnen. Eine eigenartige Variante von Integration! Der Ruf der Ungargasse ist eigentlich schon sehr schlecht. Auch wenn behauptet wird, daß es ein Vorurteil ist. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus muß ich sagen, daß ich nicht das Gefühl habe, gleich viel gelernt zu haben wie in einer Regelschule. Besonders schlimm finde ich, daß in den Bundesländern noch immer Schüler nach Wien in die Ungargasse geschickt werden, „weil sie da dann zumindest einige Jahre was zu tun haben und untergebracht sind“ (Zitate von Eltern). Dies habe ich oft bei Beratungen in den Bundesländern zu hören bekommen. Für mich gibt es kein Argument, warum ein Schüler aus Innsbruck nach Wien in die Ungargasse kommen sollte. Pädagogische Gründe kann es dafür ja keine geben, oder?

FJH: Wie siehst Du Die Schulzeit aus heutiger Sicht?

ML: Ich habe eine typische Sonderschulkarriere eingeschlagen. Beendet wurde dies erst, weil es damals keine Sonderschule mit Matura gab. (Heute gibt es auch das). Bei meinem Bruder (der einiges jünger ist als ich) begann es mit einer Integration im Kindergarten. Er hat daher einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, daß der Besuch einer Sonderschule für mich eigentlich unnötig, wenn nicht sogar schädlich war. Es gab keine soziale Integration. Heute würde ich sicher nicht in eine Sonderschule gehen. Heute gibt es die Wahlmöglichkeit und ich würde wahrscheinlich in eine Integrationsklasse gehen. Doch damals war das gar keine Frage. Es ist doch wirklich unsinnig, eine Klasse von behinderten Kindern zu haben. Das ist doch unnatürlich. Auch das Argument des besonderen Schutzes hab ich nie anerkannt. Besonders schlimm finde ich aber, daß oft von besonderer Förderung gesprochen wird. In der Integrationsklasse meines Bruders waren zwei LehrerInnen. In der Sonderschule nur eine, das aber dann gleich für 10 und mehr behinderte Kinder.

FJH: Wie gehst Du heute mit Nichtbehinderten um – gibt es da Schwierigkeiten (Einfluß der Schule)?

ML: Ich glaube, ich weiß was Du meinst. Also ich habe in der HAK und an der Uni gelernt, daß behindert sein nicht besonders ist. Beim Kontakt mit nichtbehinderten Menschen ist meine Behinderung nur ein Merkmal von mir. Wenn das mein Gesprächspartner und ich verstanden haben, wird dies kein Hindernis oder etwas Trennendes sein. In Sondereinrichtungen wird man oft auf sein besonderes Merkmal reduziert. Das ist wie in Krankenhäusern, dort wird man auf seine Krankheit reduziert. Das kann sich im Denken festsetzen. Bei behinderten und nichtbehinderten Menschen. Schon deswegen, ist – so meine ich – das gemeinsam Leben und Lernen wichtig.

FJH: Viele Behinderte haben die gleiche Karriere wie Du hinter sich. Trotzdem hast Du dich anders entwickelt. Du hast dich irgendwie weiterentwickelt als sie. Daniel Kap würde sagen, Du siehst über die Lehne deines Rollis hinweg. Wie siehst Du das? Warum ist das so?

ML: Ich habe erst mit ca. 20 Jahren begonnen, Behinderten(gesellschafts)politik zu machen. Außerdem habe ich einen Bruder (13), der mich eigentlich zur Integrationsbewegung gebracht hat. In der Selbstbestimmt Leben Bewegung bin ich, weil sich aus unserer Selbsthilfegruppe das BIZEPS-Zentrum für selbstbestimmtes Leben entwickelt hat. Das sind vielleicht die Gründe für meine Entwicklung. Wahrscheinlich auch, daß ich ein gutes Elternhaus habe und ein Selbstwertgefühl bekommen habe und daher ziemlich selbstbewußt sein kann.

FJH: Du hast auch eine gehörige Portion Zynismus. Hat sich der entwickelt? Hilft er dir oder stört er dich? Wie reagieren die Leute darauf?

ML: Der Zynismus gehört einfach zu mir. Ich glaube, den hätte ich auch, wenn ich nicht behindert wäre (bzw. würde). So hab ich aber mehr Betätigungsfeld. Der Zynismus hilft mir nicht, er stört MICH aber auch nicht (andere manchmal schon). Vielleicht ist mein Zynismus eine Art Selbstschutz — ich kann das jedenfalls nicht beurteilen.

FJH: Was ist für dich Bizeps?

ML: Ich habe es mitgegründet (wir waren eine Selbsthilfegruppe). BIZEPS ist für mich eine Organisation, mit der ich Ziele durchsetzen kann, weil sich dort Leute treffen, die ähnliche oder gar gleiche Ziele haben. (Eben das selbstbestimmte Leben). Meine Rolle im BIZEPS? Meinst Du laut Statuten? Also ich bin Kassier. Ich glaube aber, Du meinst, was ich so mache. Also ich bin für die Buchhaltung, die Computer und die Zeitung BIZEPS-Info zuständig. In letzter Zeit mache ich vermehrt Beratungen.

Martin Ladstätter ist Gründungsmitglied des ersten österreichischen Zentrums für Selbstbestimmtes Leben (BIZEPS) und Redakteur von BIZEPS-INFO.

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