Thematisiert wurde die aktuelle Reportage des „Team Wallraff undercover“, das in Behinderteneinrichtungen der Lebenshilfe Deutschland Missstände aufdeckte und über RTL öffentlich machte.
Eine Mitarbeiterin des Team Wallraff hat sich als Praktikantin in Werkstätten und einem Wohnheim der Lebenshilfe für behinderte Menschen eingeschleust und mit versteckter Kamera gefilmt. (Siehe dazu auch kürzlich erschienener „Artikel von Ottmar Miles-Paul“ in BIZEPS.)
Zu sehen sind zum Beispiel: Bestrafungsaktionen (behinderter Mann darf bei der Nachmittagsjause nicht teilnehmen, da er inkontinent war); körperliche Misshandlungen (Mitarbeiterin setzt sich direkt auf eine junge Frau mit spastischer Behinderung, damit diese nicht aufstehen und herumlaufen kann) oder abfällige herabwürdigende Bemerkungen zu und über Bewohner und Bewohnerinnen („Depp“, sexistische Äußerungen). Neben solchen Vorfällen durch einzelne Mitarbeiter wird auch das System der Behinderteneinrichtungen grundsätzlich hinterfragt.
Die „Praktikantin“ berichtet von einem Wohnheim, wo die Bewohner und Bewohnerinnen einen sehr eintönigen Alltag aushalten müssen. Ohne Aktivität, Förderung, menschliche Ansprache. Mitarbeiter auf Rauchpause, unter sich oder alleine im Büro. Oder in einer Werkstätte mit eintönigem Alltag, mit einer von Teilnehmern und Teilnehmerinnen als stumpfsinnig erlebten Arbeit, mit nur geringem Lohn und keine Aussicht auf Veränderung bzw. Verbesserung.
Reaktionen in Deutschland
Das Team Wallraff hat die Aufnahmen drei Experten und Expertinnen aus dem Behindertenbereich vorgespielt und um ihr Statement gebeten. Ihre vorwiegende Reaktion: Fassungslosigkeit. Einer von ihnen war der deutsche Aktivist Raul Krauthausen, der mit seinem Projekt „Das Heimexperiment: 5 Tage lebenslänglich“ erst kürzlich ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Siehe auch „#TeamWallraff und die Konsequenzen„.
Die Internetseite „Leidmedien“ hat erste mediale Reaktionen sowie Links zu Diskussionsplattformen und Hintergrundwissen rund um das Thema zusammengefasst. Statements der Lebenshilfe sind auf Facebook bzw. auf deren Homepage zu entnehmen.
Reaktionen in Österreich
Eine Internetrecherche (Stand: 24. Februar 2017, 11 Uhr) bei österreichischen Mainstream-Medien ergab: keine Berichterstattung über die Wallraff-Reportage. Dabei ist die Behindertenlandschaft in Österreich ganz ähnlich wie in Deutschland. In beiden wird trotz der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention an den sogenannten „Totalen Institutionen“ festgehalten. In beiden Ländern gibt es eine lange Liste von Skandalen.
Die Medienberichte über das „Konradinum“ in Salzburg, über die „Steinergasse“ (Diakoniewerk Wien) oder die Kritik an den „Pflegewohnhäusern“ der Stadt Wien sind noch frisch in Erinnerung.
System- und Paradigmenwechsel
In den vergangenen Tagen wurden viele bekannte Maßnahmen genannt: Mehr Geld für die Einrichtungen, höherer Lohn für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, bessere Ausbildung, besseres Image des Pflegeberufes, einheitliches Pflegesystem, mehr Supervision, Ausbau eines Beratung- und Beschwerdemanagement, Entwicklung einer Fehlerkultur.
Symptombekämpfung ist als akute Maßnahme sinnvoll. Dass es mehr braucht, ist Behörden und Ländern einmal mehr in Erinnerung zu rufen. „Sonderstrukturen abschaffen“ – so ein aktueller Beitrag auf kobinet-nachrichten.
Zur Wallraff-Reportage hat sich auch der Inklusionsaktivist Constantin Grosch auf seinem Blog mit dem Beitrag „System Behinderung“ geäußert. Er schlägt zum Beispiel vor:
- Trennung von Beratung, Leistungserbringung und Kontrolle (Peer-Evaluationen);
- Kleinere, inklusive und unabhängigere Angebote schaffen und
- Abschaffung der Sonderwelten.
Der österreichische Monitoringausschuss hat übrigens erst kürzlich eine konkrete Stellungnahme zur „De-Institutionalisierung“ veröffentlicht.
Wie werden Institutionen wie die Lebenshilfe nun reagieren? Wahrscheinlich interne Papiere für einen eigenen in der Zukunft möglichen Skandal entwickeln. Abklären von rechtlichen Fragestellungen. Datenschutzklauseln überarbeiten. Abschottung nach außen hin.
Dann wird es mehr brauchen …
Übrigens: In Österreich führt die Volksanwaltschaft unabhängige und unangekündigte Kontrollen durch. Wenn Missstände bekannt sind, kann man sich bei der Volksanwaltschaft melden.