Menschenwürde, Selbstbestimmung und staatliche Leistungspflicht

Anmerkungen zu einem Urteil des EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EGMR

Welche Leistungen müssen Staaten erbringen, wenn Menschen ihr Recht auf selbstbestimmtes Leben und Privatleben einfordern? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einem aktuellen Fall sehr formalistisch eine Menschenrechtsverletzung verneint.

Worum es geht

Frau McDonald, geboren 1943, hat im September 1999 einen Schlaganfall erlitten und ist seit damals in ihrer Mobilität eingeschränkt. Im April 2006 zog sie sich bei einem Sturz einen mehrfachen Beckenbruch zu. Aufgrund zweier weiterer Stürze musste sie ebenfalls stationär behandelt werden. Seither leidet sie an einer Reflexblase und muss zwei bis drei Mal pro Nacht urinieren. Wegen ihrer Bewegungseinschränkung kann sie das ohne fremde Hilfe nicht ohne Gefahr erledigen.

Nach ihrem dritten Sturz beantragte sie durchgehende Tages- und Nachtbetreuung. Während der Antrag bearbeitet wurde, erhielt sie ein Betreuungspaket, das 70 Stunden Nachtbetreuung pro Woche beinhaltete. Als sie 2008 das 65. Lebensjahr vollendet hatte, ging die Zuständigkeit auf die Gemeinde über. Verschiedene Gutachten bescheinigten ihr erheblichen Bedarf oder nur mäßigen Bedarf an Unterstützung.

Die Gemeinde beschloss, dass Inkontinenzeinlagen anstatt durchgehende Betreuung während der Nacht ausreichen, um die Sicherheit von Frau McDonald sicherzustellen. Diese lehnte die Einlagen unter Hinweis auf die dauernde Nässe ab und berief sich auf ihre Rechte aufgrund Artikel (Art.) 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD).

Auch das Angebot, in ein Heim zu ziehen, wo eine durchgehende Betreuung sichergestellt wäre, lehnte sie ab und argumentierte, das verstoße gegen ihr Recht auf selbstbestimmtes Leben gemäß Art. 19 CRPD, das auch das Recht umfasst, den eigenen Wohnort selbst zu bestimmen. Frau McDonald wandte sich schließlich an den EGMR, der in seinem Urteil eine Verletzung der EMRK in den entscheidenden Punkten verneinte.

Einschätzung des EGMR

Während die Entscheidungen von November 2008 bis November 2009 nicht dem anwendbaren englischen Gesetz entsprachen und daher allein deshalb Art. 8 EMRK (Recht auf Privatleben) verletzen, verneinte der Gerichtshof für die folgende Zeit, in der das gesetzlich vorgeschriebene Procedere eingehalten wurde, eine Verletzung. Er berief sich darauf, dass den Behörden ein weiterer Ermessensspielraum eingeräumt sei, in dem die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Gemeinde mit den Bedürfnissen von Frau McDonald in Einklang gebracht werden müssten. Insbesondere verwies die Gemeinde darauf, dass auf eine faire und angemessene Verteilung der vorhandenen Ressourcen auf alle LeistungsbezieherInnen zu achten sei.

Einschätzung des Urteils

Das Urteil ist in mehrfacher Sicht enttäuschend. So wird etwa die CRPD ausdrücklich erwähnt, aber bei der rechtlichen Begründung praktisch nicht beachtet. Dagegen bezieht sich der EGMR auf eigene Urteile, die aus Zeiten lange vor der CRPD stammen.

Insbesondere verabsäumt er, für solche in Zukunft wohl immer häufiger auftretende Abgrenzungsfragen allgemeine Grundsätze zur Abwägung der verschiedenen Interessen, die auch in Einklang mit der CRPD stehen, zu erlassen. Statt dessen zieht er sich darauf zurück, dass die Entscheidung nach den formalen Vorgaben des nationalen Gesetzes getroffen werden müsse und inhaltlich die Gemeinde eher imstande ist als der EGMR, eine sachgerechte Entscheidung zu treffen. Frau McDonald wollte durchgehende Betreuung in der Nacht, statt dessen wurden ihr die Übersiedlung in ein Heim oder die Verwendung von Inkontinenzeinlagen (auf Kosten der Gemeinde) zur Wahl gestellt. Daraus ein Wahlrecht abzuleiten, das Selbstbestimmung ermöglicht, ist keinesfalls in Einklang mit der CRPD.

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